Ins Eis: Roman (German Edition)
Er hob die Hand, wie um ihre Schulter zu berühren, und ließ sie wieder fallen. Stattdessen drehte er sich um und ging ihr voran. Nach dreißig Metern tauchte vor ihnen das Lager auf. Tim befestigte Bridgestone wieder an seiner Kette. Der Hund drehte sich dreimal im Kreis, bevor er sich mit einem letzten vorwurfsvollen Blick in Kirstens Richtung niederließ und die Augen schloss, seufzend ob der Unzulänglichkeiten fellloser Zweibeiner.
In der Zwischenzeit waren alle auf den Beinen, Ingrids Besorgnis hatte nicht nur Tim aus dem Zelt gescheucht. Sogar Fredrik war unter der Gruppe, die sich jetzt um Kirsten und Tim drängte. Kirsten tat es leid, weil sie so viel Aufregung hervorgerufen hatte; sie streckte einen Arm nach Fredrik aus, der sie stumm an sich zog. Sein Gesicht war grau und eingefallen, die Züge eines alten Mannes.
Sie berichtete kurz, wie dumm sie sich angestellt hatte. Sie standen dicht beieinander im Kreis, Schulter an Schulter, und schufen so in ihrer Mitte einen Ruheraum, in dem Schneeflocken nicht horizontal dahinschossen, sondern sanft nach unten tanzten. Tobias sagte, ihm wäre es ein paar Stunden vorher fast genauso gegangen, daher wäre er gar nicht bis zur Toilette gelaufen, sondern hätte einfach auf halbem Weg in den Schnee gepinkelt. Dabei, fügte er hinzu, wären ihm Fußstapfen aufgefallen, die vom Gemeinschaftszelt gekommen waren. Frische Fußstapfen, wie er behauptete.
»Jemand ist bei Erland im Zelt gewesen?«, hakte Ingrid irritiert nach. »Wir hatten doch besprochen, wir lassen alles wie gehabt.«
»Das war ich.« Tim hatte sich in der Zwischenzeit eine Zigarette angezündet. Er allein trug nicht seine schwere Überjacke, sondern lediglich eine leichte blaue Daunenjacke. »Ich habe mein Gewehr geholt.«
»Du hast das Gewehr geholt?«, echote Hartmut. »Aber das geht doch nicht! Das ist das wichtigste Beweismittel für die polizeiliche Untersuchung! Die Tatwaffe.«
Tobias murmelte: »Tatwaffe klingt nach Mord.«
»Es war ein Unfall!«, stellte Hartmut ungeduldig fest. Fredrik sagte gar nichts, er schwankte ganz leicht. Kirsten drängte sich enger an ihn.
Tims Hand mit der Zigarette beschrieb einen glühenden Bogen in der Luft. »Was hätte ich denn eurer Meinung nach tun sollen? Wir tragen hier in Spitzbergen Gewehre nicht bloß zum Zeitvertreib mit uns herum, sondern aufgrund einer ganz realen Gefahr. Sollte ich uns dieser Gefahr aussetzen? Heute Nacht oder morgen auf dem Weg zum Schiff?«
»Da wären ja noch die Hunde gewesen«, warf Ingrid ein. »Kein Eisbär würde sechsundvierzig Hunde angreifen. Außerdem haben wir noch die Signalpistole, die ist in meinem Zelt. Es wäre schon ein vertretbares Risiko gewesen, die Waffe dort zu lassen, wo sie war.«
Tims Stimme war lauter als notwendig, als er erwiderte: »Ich bin der Tourleiter. Ich trage die Verantwortung für diese Gruppe, und ich musste diese Entscheidung treffen. Es gibt kein Handbuch für solche Fälle.« Nach einem letzten Zug an der Zigarette fügte er hinzu: »Glaubt mir, es war kein Spaß, dieses Zelt zu betreten.«
Am Morgen wehte der Wind noch immer stark, doch die stürmischen Böen hatten sich gelegt, es fiel nur wenig Schnee. Die Wolken wirkten düster, weshalb Tim meinte, möglicherweise sei dies nur ein Fenster von wenigen Stunden, bevor sich das Wetter abermals verschlechterte. Schweigend, mit nichts zum Frühstück außer lauwarmem Teewasser und ein paar Keksen, packten sie ihre Schlitten und schirrten die Huskys ein. Die Tunnelzelte sowie Erlands Schlitten samt Gespann würden sie zurücklassen. Tim gab Erlands Hunden eine größere Portion zu fressen als den anderen und stellte sicher, dass sie ihr Wasser mit aufgeweichtem Trockenfutter austranken. Dabei ging er von Hund zu Hund, kraulte Ohren, sprach mit jedem Tier. Ein paar Huskys winselten, als ob sie verstünden, dass sie zurückgelassen werden würden.
Kirsten suchte nach ihrer Sturmhaube, fand sie aber nicht. Die anderen warteten ungeduldig, während sie im Zelt und in ihrem Schlitten wühlte. Hartmut schnaubte hörbar, woraufhin Kirsten beschloss, dann würde sie eben ohne Sturmhaube fahren, aber Ingrid warnte, das würde sie bereuen, sobald sie auf der offenen Fläche des Fjords wären, wo der Wind ungebremst blase.
»Wo hast du die Maske denn das letzte Mal angehabt?«
»Ich habe sie ausgezogen, sobald wir die Schlitten geparkt hatten, und dann in meine Jacke gestopft. Sie war ganz steif gefroren.« Kirsten wurde blass, als sie sich zwang
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