Ins Eis: Roman (German Edition)
zu erinnern. »Ich hab sie zum Trocknen mit ins Gemeinschaftszelt genommen und neben dem Eingang an einen Riemen gehängt. Erland hat dasselbe mit seiner getan. Das war kurz bevor, bevor er …«
Sie drehte sich um. Sie alle hatten sich bemüht, während des Packens möglichst keine Blicke in Richtung des großen Zelts zu werfen, an dessen Seiten sich dreißig Zentimeter hohe Schneeverwehungen gebildet hatten. Massig und bewegungslos thronte es zwischen ihnen und dem Fjord. Ein einzelner Hund hob zum Heulen an, ein anderer antwortete, doch es fiel kein weiterer mit ein, so verstummten auch diese beiden Stimmen rasch.
»Soll ich sie für dich holen?«, fragte Ingrid.
Kirsten hob die Schultern. »Ich gehe selbst; ich weiß besser, welche meine war und welche Erlands.« Sie sah Tim an. »Ist das in Ordnung?«
Tim nickte.
Auf dem Weg zum Gemeinschaftszelt spürte Kirsten die Augen der anderen in ihrem Rücken. Sie wollte schneller gehen, immerhin hatten sie es eilig, zum Schiff zu kommen und Longyearbyen anzurufen, aber ihre Beine waren schwer, und sie fühlte sich, als liefe sie durch zähen Sirup. Am Reißverschluss des Eingangs hatte sich ein wenig Eis gebildet, weshalb er klemmte. Sie ruckte stärker daran, endlich glitt er bis auf Brusthöhe auf. Kirsten bückte sich und trat hindurch.
Es war inzwischen hell geworden, das einfallende Licht reichte aus, um den Eingangsbereich bis zur Mitte des Zelts, wo Erlands Leiche lag, notdürftig zu beleuchten. Es war kalt im Inneren, das Wasser im Topf auf dem Kocher zu Eis gefroren. Das Blut um Erlands Kopf war ebenfalls erstarrt, sein Gesicht mit den nun geschlossenen Augen kalkig hell. Kirsten wandte den Blick ab. Sie trat nach rechts, wo ihre Sturmhaube über einem Riemen hing, genauso steif und frostig wie gestern Abend, als sie sie dort hingehängt hatte, direkt neben Erlands. Er hatte noch gescherzt, dass er die Maske mittlerweile wie eine Cäsarbüste hinstellen könne, sie würde wohl noch in drei Jahren sein Gesicht nachformen.
Kirsten drehte sich zurück in Richtung Eingang. Dabei stieß ihre Fußspitze gegen Erlands Fototasche. Der Deckel stand offen; die Kamera lag mit dem Objektiv nach unten darin. Das Seitenfach war leer. Von dem grünen Notizbuch, das zwei Abende zuvor seinen Platz darin gefunden hatte, keine Spur.
Kirsten, die im Zelt den Atem angehalten hatte, merkte, wie ihr die Luft knapp wurde. Rasch trat sie nach draußen. Erst da sie den Reißverschluss geschlossen und sich aufgerichtet hatte, atmete sie wieder ein. Sie signalisierte den anderen, dass alles in Ordnung war, und lief zu ihrem wartenden Schlitten. Ihre Hunde schienen es genauso eilig zu haben wie sie, von diesem Ort fortzukommen, denn sie sprangen bei Kirstens Näherkommen sofort auf. Tim gab das Zeichen zum Aufbruch. Das Gewehr hing wie in den letzten Tagen schräg über seinem Rücken.
Das verrückte Bellen von Erlands Hunden verfolgte sie, als sie davonfuhren.
Die Fahrt über den Fjord entwickelte sich trotz des Rückenwinds zur Herausforderung, zu sehr hatte der Sturm der letzten Nacht den Trail verweht. Am Anfang sackten Tims Hunde bis zum Bauch ein, während sich der wuchtige Schlitten im Tiefschnee festfuhr. Tim musste schieben und gleichzeitig die Hunde auf Kurs halten. Für einen Kilometer brauchten sie eine Dreiviertelstunde. Zügiger kamen sie erst voran, sobald sie die Mitte des Fjords erreichten, wo der Wind die offene Fläche in eine Schneise tiefschneefreier Monotonie verwandelt hatte. Die Musher fuhren mit hochgezogenen Schultern und nach vorne gekauert. Nur selten drehte sich einer zum Hintermann um, denn dies hätte bedeutet, sich frontal in den eisigen Wind zu drehen, der trotz Sturmmaske, Schneebrille und kinnhoch geschlossenem Kragen immer wieder eine Lücke in der Kleidung fand. Bei Kirsten waren es ihre Handgelenke, dort, wo die Jacke ein Stück hochrutschte und die Handschuhe nicht lang genug waren, um über den Ärmeln abzuschließen.
Schnee wogte, von Böen getrieben, in wadenhohem Dunst an ihnen vorbei. Selbst die Hunde drehten die Gesichter zur Seite, fort vom Wind, der ihr Fell am Rücken aufstellte. Die Wolken über ihnen wurden nach Nordwesten hin dunkler; Tim betrachtete sie lange und sorgenvoll. Er rief seinen Leithunden etwas zu, ein aufreizendes Trällern, nach dem die Hunde das Tempo anzogen.
Trotz der niedrigen Wolkendecke sahen sie die »Noorderlicht« lange vor Erreichen vor sich liegen. Sie hatten seit dem Aufbruch nicht mehr gesprochen und
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