Ins Eis: Roman (German Edition)
zurückbringen, sondern gleich noch Erlands Leiche bergen. Die Polizistin, die bereits in der Nacht angekommen war, war noch während des Frühstücks verschwunden, auf dem Weg zur Unglücksstelle. Ingrid wusste außerdem zu berichten, dass ein weiterer Polizist den Gouverneur begleitete, ein erfahrener Ermittlungsbeamter, der die Untersuchungen leiten würde. Deshalb bestiegen nun einzig die acht Familienmitglieder und Peter den Super Puma. Der Gouverneur reichte Fredrik im Vorbeigehen kurz die Hand und sprach ein paar leise Kondolenzworte. Fredrik nickte. Als er seine Hand zurückzog, bebten seine Finger.
Auf dem Weg zum Helikopter, im Gänsemarsch über den unter ihren dicken Sohlen knirschenden Schnee, raunte Elisabeth Kirsten zu, Fredrik habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Einmal, als sie wach geworden sei, habe er nach vorne gebeugt im Bett gesessen. Sie habe ihn angesprochen, und er habe ihr geantwortet. Auf Norwegisch, wie sie voller Entsetzen hervorhob, als ob sie noch nie etwas Unheimlicheres an Fredrik entdeckt hätte als seine Muttersprache.
Drei Sekunden später drehte sich Tobias, der direkt vor Kirsten lief, um und flüsterte nicht allzu leise: »Damit bist du die Letzte, die es erfährt, Kirsten. Das hat sie jetzt jedem erzählt. Man fragt sich, warum.«
Während des Flugs vom Tempelfjord zurück nach Longyearbyen saß Kirsten Jonas gegenüber am Fenster. Dröhnend starteten die Rotoren, im Funk knisterte die Stimme des Piloten. Der Sitz unter Kirstens Hintern vibrierte, dann hob der Helikopter ab. Rasch an Höhe gewinnend stieg er über die Mastspitzen der »Noorderlicht« auf. Der Berg, an dessen Fuß sie starteten, kippte auf sie zu, bevor der Super Puma herumschwenkte, die Nase ein Stück zum Boden richtete und dann beschleunigte. Sie zogen an der »Noorderlicht« vorbei, hinweg über die kahle Takelage, den von schweren Fußtritten niedergetrampelten Schnee auf dem Deck und die Schlitten, Hunde und Schneemobile. Unter ihnen machten sich vermummte Gestalten bereit für die Fahrt über den Fjord. Kirsten suchte mit den Augen ihr Gespann. Die Huskys hoben die Köpfe, als sie schräg über sie hinwegdonnerten, vielleicht heulten sie sogar, zumindest bildete sie sich das ein. Dann verschwanden Schiff, Hunde und Menschen auch schon aus ihrem Blickfeld.
Das Hotelzimmer war sauber gemacht worden, aber ansonsten unverändert. Kirstens Kleider und Umhängetasche, vor fünf Tagen achtlos über einen Stuhl geworfen, lagen genau wie zuvor, der Tisch verschwand unter einem Haufen aus bekritzeltem Papier, Stiften, Kinderbüchern und Prospekten über Spitzbergen. Über dem Fernseher hing die Hülle mit den Dokumenten aus Kristoffers Hotelzimmer, zuoberst der Artikel über das Minenunglück von 1981 mit seinem handgeschriebenen Verweis auf das ominöse Notizbuch. Kirsten konnte sich nicht erinnern, die Mappe vor ihrer überstürzten Abfahrt auf den Fernseher gelegt zu haben.
»Jonas, wer hat mit dir zusammen deine Sachen gepackt, bevor ihr mit den Schneemobilen aufgebrochen seid?«
»Tante Monika und Oda.«
Kirsten legte die Mappe beiseite. »Ich geh jetzt erst einmal duschen. Und wenn ich mir dich so anschaue, junger Mann, dann kommst du besser mit.«
Während sie Jonas im Bad seine Kleider auszog, fiel ihr auf, wie mager er geworden war. Hatten seine Rippen vor ihrer Abreise auch schon so deutlich unter der Haut hervorgestochen? Sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass er schlecht aß. Sie hob ihn hoch, setzte ihn auf ihre Hüfte, seine Oberschenkelchen klammerten sich um ihre Taille. Zu ihrer beider Gesichter im Spiegel sagte sie: »Wir müssen wieder etwas Fleisch auf deine Rippen kriegen, mein Schatz. Bei dem Fliegengewicht spüre ich dich bald nicht mehr.«
Jonas kicherte. »Das hat Peter auch zu Tante Elisabeth gesagt.« Er lehnte sich vor, um seine gespreizte Handfläche mitten auf ihr Spiegelgesicht zu patschen. Was Kirsten daran hinderte, ihre eigene Verblüffung zu sehen.
»Wann hat Peter das denn gesagt?«
»Auf dem Schiff.«
»Und wieso hat er das gesagt?«
»Weiß nicht. Tante Elisabeth wollte keinen Kuchen. Ich habe ihr Stück bekommen.« Er rieb sich über den nackten Bauch und kicherte über seine Nacktheit.
Jonas war nach dem Helikopterflug ganz aufgekratzt gewesen, bis er verstand, dass das zweite Auto Fredrik und Monika nicht zum Hotel fuhr, sondern ins Krankenhaus. Das hatte ihn sehr besorgt, doch wenigstens vergaß er darüber, weiter nach Erland zu fragen. Der Polizist,
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