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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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Untersuchung. Von Elisabeth keine Spur. Diesmal zog sich Jonas mit den Bauklötzen und einem neuen Puzzle, das Kirsten ihm in einem der Souvenirläden gekauft hatte, in die Zimmerecke zurück, während sie selbst auf Fredriks Bettkante Platz nahm. Er wirkte noch erschöpfter als vorher. Als sie ihn fragte, ob er ruhen wolle, griff er nach ihrer Hand.
    »Ich wusste immer, dass ich stärker bin als andere«, begann er. »Dass ich lange leben und dass ich kein kraftloser alter Mann sein würde, dem seine Söhne im Pflegeheim den Sabber von der Wange putzen. Und jetzt … Diese Unfälle …«
    »Unfälle passieren, Fredrik, du weißt das besser als viele andere. Du hast Kristoffer nicht in den Sturm hinausgeschickt, und du hast Erland nicht zu einem Waffennarr erzogen.«
    »Ich habe sie hierhergebracht, reicht das nicht?«
    »Kristoffer ist nicht wegen dir hergekommen. Er war fasziniert von diesem Land.« Sie dachte an Ingrids Beine im Lotussitz, der Schatten ihres Slips, der unter dem langen T-Shirt hervorgelugt hatte. Ihre sich aufeinander zubewegenden Handflächen, das schallende Klatschen.
    »Fredrik«, sagte sie, den Kopf von ihm fort in Richtung Fenster drehend, »erzähl mir, wie du damals verschüttet wurdest. Im April 1981. Was ist damals geschehen?«
    Er fragte sie nicht, woher sie von dem Grubenunglück wusste. Draußen vor dem Fenster kroch die Dämmerung über die Straße; der Himmel verwandelte sich in eine violette Bühne, auf der blaugraue Wolkenfetzen die Vorgruppe stellten. Boten der Nacht und fallender Temperaturen.
    »Es war Lichtwinter«, sagte Fredrik, und seine Stimme ließ Jonas in seinem Spiel innehalten und über den Fußboden bis zum Bett seines Großvaters krabbeln. »Aber in den Minen, da ist niemals Lichtwinter. Du hast sie gesehen, die Gruben, sie sind zu niedrig, finster, und der Permafrost frisst sich in deinen Nacken. Am Anfang kommt er dir noch warm vor, minus vier Grad im Inneren nach minus zwanzig Grad im Freien. Aber dann nicht mehr. Vor allem, wenn es keine Arbeit gibt, sondern nur Warten. Die Hoffnung und das Vertrauen, die wärmen weniger, als man denkt. Wie viel besser man sich fühlte, würde man selbst draußen die Entscheidungen treffen. Verantwortung, sie ist eine Last, die man leichter tragen kann, denn sie hat Griffe. Das hat nichts mit Angst zu tun, aber dieses Nichtstunkönnen, dieses Verdammtsein, das treibt dich in den Wahnsinn. Du hast alle Sicherheitsbestimmungen im Kopf, den Plan der Schächte, die zur Verfügung stehenden Maschinen. Du soufflierst ihnen, was sie tun müssen, doch deine Stimme hallt von den Wänden zu schnell zu dir zurück. Du und dein Echo, dein letzter flüsternder Kumpel.
    Die Mine damals, das war keine der großen Gruben in Longyearbyen, es war eine, die wir noch erkundeten, außerhalb. Es gab logistische Probleme aller Art, Transport vor allem, aber die Kohle war von exzellenter Qualität, ein dünnes Flöz, das ins Berginnere hinein rasch an Mächtigkeit gewann. In diesen Tagen, als wir darauf warten mussten, bis sie uns ausgruben, da ging die Zeit anders. Sie sickerte durch das Gestein und fror in ihm fest. Es war stickig, die Luft, die wir atmeten, schmeckte wie Kohleöfen, alles schmeckte danach, sogar die Schokolade in unseren Taschen. Die Explosion hatte den Schacht destabilisiert; immer wieder brachen Brocken ab.« Fredriks Atem ging heftiger, rasselte in seiner Brust. »Und du sitzt da in der Finsternis. Die Lampe hast du ausgemacht, um Batterie zu sparen. Also siehst du auch nicht auf deine Uhr. Du spürst den Berg, und der kommt schneller näher als deine Leute. Du weißt nicht, ob du gerettet werden wirst, bevor der Sauerstoff zu Ende geht, du wagst dich sogar an die Abbruchstellen heran, fühlst nach Löchern im Schutt, wo Luft hindurchstreifen könnte, aber da ist nichts.
    Auf der anderen Seite, da ist die Situation ähnlich. Die Männer dort, vier waren es, glaube ich, klopften, sie riefen. Ich antwortete ihnen. Auch sie steckten fest, näher an der Welt, aber doch genauso gefangen. Das Hangende, die Schachtdecke, musste an mindestens zwei Stellen eingestürzt sein, die Explosion war stark gewesen. Eine Sprengexplosion, zum Glück, kein Gas, nur herabgefallenes Gestein. Kein Feuer, an dem sich die Kohle entzünden könnte, das ist gut. Rational bleiben, die Furcht auf Abstand halten, das ist gut. Du musst die Disziplin bewahren, also gibst du dir eine Routine. Zählen. Rechnen. Liegestütze. Den Schacht erkunden. Nach Luftzug

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