Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
Vergleich zum aufwendig und modern renovierten Gebäudekomplex des Hauptbahnhofs war dieser Wartesaal der reine Anachronismus.
Immerhin trocken und einigermaßen warm, dachte Pippa und ließ sich auf einen Sitz fallen.
Bis auf eine ältere Dame ihr gegenüber war der Warteraum leer. Die Frau saß mit sehr geradem Rücken da, eine steife Handtasche, die sie fest umklammert hielt, auf den zusammengepressten Knien. Ihre Frisur wirkte wie betoniert. Sie bemühte sich nicht, ihre Neugier zu verbergen, und starrte Pippa offen an.
Wenn mich vorhin tatsächlich jemand beobachtet hat, dachte Pippa, kann sie es nicht gewesen sein. Diese Lady hätte sich nicht versteckt.
Pippa bemühte sich nach Kräften, den strengen Blick ihres Gegenübers zu ignorieren, zumal die Frau nicht den Eindruck machte, als sei ihr nach Konversation. Da Pippas Magen knurrte, beschloss sie, sich die Wartezeit mit einem Picknick zu verkürzen. Familie und Freunde hatten ihr ein Überraschungs-Proviantpaket mit auf die Reise gegeben, das sie jetzt aus einem der Koffer holte und öffnete.
Erfreut entdeckte sie mehrere liebevoll beschriftete Plastikdosen: ein paar würzig duftende Frikadellen und eine Tube Senf von Karin, einige Riegel Shortbread mit Karamell und Schokoladenglasur von Freddy, bei deren Anblick Pippa der Verdacht beschlich, es könnten ursprünglich erheblich mehr gewesen sein. In Abels Dose fand sie Spreewaldgurken aus seinem Heimatdorf und lächelte erfreut, weil er sich ihre Vorliebe gemerkt hatte. In einer luxuriös ausgestatteten Pappschachtel von Tatjana entdeckte Pippa belgische Trüffelpralinen – handgerolltes Hüftgold. Ihre Großmutter Hetty hatte selbstgemachte Scones eingepackt, dazu sahnige Butter und ein Töpfchen bittere Orangenmarmelade, selbst ein Messer fehlte nicht. Der Beitrag ihrer Eltern bestand aus deftigen Schmalzstullen und zwei Flaschen Bier.
Das reicht ja locker für zwei Tagesreisen, dachte Pippa gerührt, und alles delikat aufeinander abgestimmt. Sie packte die letzte Gabe aus: ein Buch von Sven, Homepage basteln für Anfänger .
Pippa hatte die Köstlichkeiten auf dem Stuhl neben sich ausgebreitet und bemerkte, dass die Dame gegenüber jede ihrer Gesten interessiert verfolgte.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Pippa freundlich. »Für mich allein ist das viel zu viel. Meine Familie und Freunde scheinen zu glauben, dass ich an meinem Reiseziel nichts zu essen und zu trinken bekomme.«
»Wohin geht es denn?«
»In einen winzigen Ort: Storchwinkel.«
Die Dame kräuselte ihre schmalen Lippen. »Dann könnten sie recht haben.«
Pippa, die gerade versuchte, sich zwischen Frikadelle und Scones als erstem Gang zu entscheiden, blickte erstaunt auf. »Wie meinen Sie das? Kennen Sie Storchwinkel?«
Pippas Gegenüber verengte die Augen und stieß ein schnaubendes Geräusch aus. »Jeder Altmärker kennt Storchwinkel! Und jeder weiß, dass im Dorf striktes Alkoholverbot herrscht – jedenfalls in der Öffentlichkeit. Das Dorf hat weder eine Kneipe noch ein Gasthaus oder einen Laden, in dem Alkohol verkauft wird.«
Und ich wette, du bist der Meinung, dass Storchwinkel damit ein leuchtendes Vorbild für die Sodom und Gomorrhas dieser Welt sein sollte, dachte Pippa amüsiert.
»Deshalb pilgern an den Wochenenden sämtliche Storchwinkeler in die Nachbarorte«, fuhr die Dame unterdessen fort und schüttelte pikiert den Kopf. »Mit dem unschönen Ergebnis, dass einige der Taugenichtse regelmäßig in den Entwässerungsgräben landen.« Sie warf einen beredten Blick auf die Bierflaschen. »Ich hoffe, Sie selbst haben in Storchwinkel Besseres vor?« Es klang, als würde sie vom Gegenteil ausgehen.
Überrumpelt antwortete Pippa: »Ich will dort arbeiten.«
»In der Gartenzwergfabrik?«
»Nein, im Haus der Besitzerin.«
Die Augenbrauen von Pippas Gegenüber schossen in die Höhe. »Bei Frau Gerstenknecht?« Sie musterte Pippa von der rostroten Kappe über den bunt geringelten Pullover bis hinunter zu den robusten Stiefeln. »Meinen Sie, das ist das Richtige für Sie?«
Pippa beschloss, die Frage als rein rhetorisch zu verstehen. Sie wandte sich wieder ihrem Picknick zu, entschied sich spontan für eine Gurke und biss mit großem Appetit hinein. Süßlicher Essiggeruch breitete sich aus.
Ihr Gegenüber öffnete die Handtasche, entnahm ihr ein Stofftaschentuch mit gehäkeltem Spitzenrand und hielt es sich demonstrativ vor die Nase. Das hinderte sie allerdings nicht daran weiterzureden. »Frau
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