Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
die Höhe. »Ein Fall aus den Höhen des Hochmuts in die Tiefen der Verdammnis.« Dann erhob er plötzlich die Stimme und rief: »Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den See von brennendem Schwefel, dort, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält werden, spricht der Herr – bis in alle Ewigkeit!«
»Offenbarung des Johannes, Kapitel 20, Vers 10«, leierte der Pastor automatisch herunter.
Durch die Menge ging ein nervöses Raunen, und der alte Mann fuhr mit Donnerstimme fort: »Noch bevor das Grab der Verdammnis geschlossen ist, werden die Furien der Rache zuschlagen. Und wieder werden sie ihre Schwingen ausbreiten und ihren Schatten werfen auf die Sünderin, und sie werden sie vor sich hertreiben in die Hitze des Höllenfeuers. Von dort ist keine Wiederkehr, und nichts wird von ihr bleiben als ihre schwarze sterbliche Hülle!«
»Der Spökenkieker-Heinrich«, sagte Brusche sichtlich begeistert, »stiehlt unserem Pastor die Show!«
Beinahe erleichtert wandten sich die Augen aller jetzt einer betagten, elegant gekleideten Frau zu, die sich im Rollstuhl von Melitta Wiek ans Grab schieben ließ.
Christabel Gerstenknecht, dachte Pippa und hielt den Atem an.
Der unheimliche Mann, den der Reporter den Spökenkieker-Heinrich genannt hatte, verneigte sich tief in Richtung der Dame.
Auf ein Handzeichen des Pastors hin trat ein kaum zwanzig Jahre alter Mann vor. Er setzte eine Trompete an, aber kein Ton kam heraus. Die Menge murmelte, als der Pastor leise mit dem jungen Mann sprach, der daraufhin den Kopf schüttelte. Christabel Gerstenknecht machte eine auffordernde Handbewegung, und beide Bürgermeister drückten dem Trompeter mürrisch einen Geldschein in die Hand.
Wie eine Musicbox, in die eine Münze geworfen wurde, spielte der junge Mann nun eine schmetternde Fanfare – die Klassikliebhaber als Präludium zum Te Deum von Charpentier und Musikunkundige zumindest als Eurovisionshymne aus dem Fernsehen erkannten.
Die Trauergemeinde nickte beifällig, und Pippa wurde endgültig klar, dass hier von Harry Bornwasser ohne großes Bedauern Abschied genommen wurde.
Der Pastor, von der unkonventionellen Interpretation des Te Deum sichtlich überrascht, hatte am Ende des Stückes seine Fassung zurückerlangt und sagte: »Jetzt bitten wir unsere hochverehrte Frau Gerstenknecht, als Bürgermeisterin des Heimatdorfes unseres lieben Dahingegangenen die abschließenden Worte zu sprechen.«
Christabel Gerstenknecht nickte ernst. Feierlich hob sie den Deckel des Kartons auf ihrem Schoß und entnahm ihm einen Gartenzwerg, der eine exakte Kopie von ihr selbst war. Sie warf die Keramikskulptur ins Grab, wo sie krachend auf dem Sarg zerbarst.
Dann nickte sie wie zur Bestätigung und sagte mit fester, klarer Stimme: »Und tschüs!«
Kapitel 5
D as Ende der Bestattungszeremonie bedeutete nicht, dass die Gesellschaft sich in alle Richtungen zerstreute. Einige der Trauergäste strebten zu ihren Autos, aber die meisten zogen wie eine Karawane zu Fuß die Straße entlang. Pippa fing Gesprächsfetzen auf und stellte erfreut fest, dass die Älteren im Dialekt miteinander sprachen.
Das muss Altmärker Platt sein, dachte sie, meine Vorliebe für Sprachvarianten aller Art bedient diese Gegend also auch. Ob Frau Gerstenknecht das auch beherrscht? Ist sie hier geboren? Dann kennt sie fast hundert Jahre Geschichte aus eigener Anschauung. Wie seltsam es sein muss, wenn kaum noch jemand da ist, der die Erinnerungen an die eigene Kindheit teilen kann.
Unschlüssig stand Pippa am Ausgang des Kirchhofs. Sie überlegte, ob sie die Initiative ergreifen und sich ihrer Auftraggeberin und Frau Wiek vorstellen sollte, aber die beiden waren noch auf dem Friedhof, umringt von einer kleinen Menschentraube.
Auch die Gelegenheit, mit Seeger und Hartung zu reden und das Missverständnis aufzuklären, bot sich nicht, denn die beiden Ermittler waren in ein Gespräch mit dem Pastor vertieft. Nicht einmal Maik Wegner war zu sehen.
Pippa blickte die Straße hinab. An der nahegelegenen Kreuzung wies ein Schild auf die Gartenzwergmanufaktur hin, deren massives Backsteingebäude das Ortsbild auf der linken Seite dominierte. Der Fabrik gegenüber befand sich ein Café, das offenbar das Ziel der Trauergäste war. An der nach rechts abgehenden Straße stand an einer Bushaltestelle ein weißer fensterloser Bus mit bunter Aufschrift: Rollende Bücherkiste .
Ein Bücherbus!, dachte Pippa erfreut, mindestens zehn
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