Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
den schüchternen, unscheinbaren Mann vom Vortag wiederzuerkennen: Seine Augen blitzten, sein blondes Haar war verwegen zerzaust und die Haut von der morgendlichen Kälte gerötet.
Christabel Gerstenknecht folgte Pippas Blick und sagte: »Severin ist ganz in seinem Element, wenn er mit den Hunden zusammen ist. Die Firma interessiert ihn nicht halb so sehr wie seine Vierbeiner.«
Severin Lüttmann wirkte verlegen. »Meine Jungs sind echte Prachtkerle. Ihre Lebensfreude ist ansteckend. Wenn ich mit ihnen draußen war, fühle ich mich wie neugeboren. Das kann kein Bürojob leisten.«
Das ging an seine Stiefmutter, nicht an mich, dachte Pippa, er hat das Gefühl, sich ihr gegenüber rechtfertigen zu müssen, dass ihm die Tiere wichtiger sind als die Firma.
»Außerdem sind Hunde ein echter Frauenmagnet«, warf Florian ein. »Hoffe ich jedenfalls, wo ich doch jetzt täglich mit ihnen Gassi gehe.«
»Und wartet mal ab, wenn ich erst mit den beiden Mädchen aus Alaska zurückkomme …«
Froh, in Pippa eine Zuhörerin zu haben, die noch nicht Bescheid wusste, erzählte Severin ihr von seinen Plänen, zwei Hündinnen zu holen, mit denen er eine eigene Zucht gründen wollte.
»Aber müssen Sie sie denn wirklich aus Alaska mitbringen?«, fragte Pippa. »Gibt es Schlittenhunde nicht auch hier?«
»Nur überzüchtete Triefaugen«, erwiderte er. »Ich will gesunde Tiere mit Spaß am Leben, den sie an ihre späteren Besitzer weitergeben können. Und da sind die aus der Happy-Kennels-Zucht von Martin Buser genau die Richtigen.«
»Severin bildet Begleithunde für seelisch kranke und erschöpfte Menschen aus«, erklärte Florian. »Sie werden es erleben, wenn Sie mit ihnen spazieren gehen. Die Hunde passen sich ganz Ihren Bedürfnissen an und haben auch noch Spaß dabei. Das ist faszinierend!«
»Also wirklich, Florian«, tadelte Melitta Wiek, »Frau Bolle macht mir nicht den Eindruck eines körperlich oder seelisch erschöpften Menschen.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Christabel Gerstenknecht trocken. »Nach zwölf Tagen allein mit mir stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie ein ganzes Rudel solcher Hunde benötigen wird.« In das betretene Schweigen am Tisch hinein fuhr sie fort: »Wenigstens sind die Tiere weder ängstlich noch devot – und sie belügen mich nie. Ich wünschte, Severin würde seine Fähigkeiten auch an Menschen in meiner Umgebung praktizieren. Das würde vieles erleichtern. Nicht nur bei Lüttmanns Lütte Lüd .«
Als Pippa überrascht in die Runde blickte, stellte sie fest, dass Severin rot geworden war und Melitta, plötzlich appetitlos, den gebratenen Speck auf ihrem Teller von links nach rechts schob, während sich die alte Dame, offensichtlich hochzufrieden mit diesem Effekt, in aller Seelenruhe ihr Rührei schmecken ließ.
»Und, Severin«, sagte sie in die Stille hinein, »vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Die Transportkörbe für den Flug dürfen nicht zu groß sein, die Tiere haben dann keinen Halt. Das ist ebenso schlecht wie zu enge Körbe. Lass dich von Martin eingehend beraten. Du kannst dich auf sein Urteil verlassen.«
»Sie haben auch gezüchtet?«, fragte Pippa.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Ich habe mich früher ein wenig als Musherin, also Lenkerin von Hundeschlitten, versucht. Heutzutage gewähre ich nur noch einigen von Martins alten Hunden das Gnadenbrot, so wie Unayok und Tuktu.«
Severin strahlte Pippa an. »Und ganz nebenbei hat sie mich dadurch auch mit dem Schlittenhundevirus infiziert, weil ich überlegt habe, wie man den Tieren eine neue Aufgabe geben könnte.«
Christabel Gerstenknecht nickte. »Wenn sie nicht mehr vor den Schlitten können und nicht mehr ziehen dürfen, sind sie ihres Lebensinhalts beraubt. Dann brauchen sie einen Ersatz, damit sie sich nicht langweilen und depressiv werden. Bei uns können sie sich weiterhin austoben und im Ruhestand wohl fühlen.«
»Das ist genau wie bei uns Menschen«, sagte Hilda Krause, »wenn wir nach einem erfüllten Berufsleben nichts mehr zu tun haben, altern wir vorzeitig. Wer ein Hobby hat – oder zwei«, sie warf Christabel Gerstenknecht einen Blick zu und lächelte, »der blüht auf.«
Die alte Dame erwiderte das Lächeln. »Hat man eine Mission, wird man ganz leicht hundert.«
Das Gespräch wandte sich den langen Flügen zu, die sowohl Melitta Wiek als auch Severin Lüttmann bevorstanden.
Florian schüttelte den Kopf. »Unvorstellbar: Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn
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