Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
übers Gesicht, ohne daß Brian oder sie es zunächst bemerkten. Als er sie weinen sah, krampfte sich sein Magen zusammen. »Warum tust du dir das an, Jo Ellen? Warum quälst du dich mit einer Sache herum, die vor zwanzig Jahren geschehen ist und die niemand mehr rückgängig machen kann?«
»Ich weiß es nicht – ich kann es nicht erklären, es ist einfach da.«
»Sie hat uns verlassen, und wir sind darüber hinweggekommen. So ist es doch, oder?«
»Aber was ist, wenn sie nicht freiwillig gegangen ist. Wenn jemand sie einfach mitgenommen hat. Was ist, wenn …«
»Was ist, wenn sie von kleinen grünen Männchen entführt worden ist?« entgegnete er knapp. »Himmel, die Polizei hat ein Jahr lang ermittelt. Sie haben nichts gefunden, was auf eine Entführung hingedeutet hätte. Sie ist gegangen, so einfach ist das. Hör endlich auf, dich damit verrückt zu machen.«
Sie schloß wieder die Augen. Vielleicht tat sie das ja wirklich – sich langsam selbst in den Wahnsinn treiben. »Ist es denn besser, sich vorzustellen, daß sie immer gelogen hat, wenn sie sagte, daß sie uns liebt? Ist das etwa gesünder, Brian?«
»Es ist besser, die Sache ruhen zu lassen.«
»Und allein zu sein«, murmelte sie. »Wir alle sind allein, denn wir glauben niemandem mehr, der behauptet, uns zu lieben. Wir denken, es sei wieder nur eine Lüge. Es ist besser, von Anfang an allein zu bleiben, als wieder allein gelassen zu werden. Ist es nicht so?«
Sie war der Wahrheit so nahe gekommen, daß Brian wütend wurde. »Du bist diejenige, die Alpträume hat, Jo, nicht ich.« In Sekundenschnelle traf er seine Entscheidung und stand auf, bevor er seine Meinung ändern konnte. »Komm mit.«
»Wohin?«
»Wir fahren ein Stück. Komm schon.« Wieder griff er nach ihrer Hand. Er zog sie von der Hängematte und zog sie in Richtung seines Wagens.
»Wohin? Warum?«
»Tu doch wenigstens einmal, worum du gebeten wirst.« Er drückte sie auf den Beifahrersitz, schlug die Tür zu und stellte zufrieden fest, daß sie so verblüfft war, daß sie sitzen blieb. »Kate raubt mir schon den letzten Nerv«, brummte er, während er einstieg und den Zündschlüssel ins Schloß steckte. »Du bist am Heulen. Mir reicht’s allmählich. Ich hab’ auch noch ein eigenes Leben, weißt du.«
»Ja, ich weiß.« Schniefend fuhr sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. »Du hast’s wirklich schwer.«
»Halt einfach den Mund.« Mit quietschenden Reifen wendete er. »Du kommst hier an, nichts als Haut und Knochen,
blaß wie der Tod, und jetzt wollen wir endlich wissen, was mit dir los ist. Vielleicht kehrt ja dann endlich wieder Ruhe ein.«
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ihre Hand schloß sich um den Türgriff. »Wohin fahren wir?«
»Du«, verbesserte er sie, »du fährst jetzt zum Arzt.«
»Den Teufel werd’ ich tun. Halt sofort an und laß mich raus.«
Mit zusammengebissenen Zähnen beschleunigte er den Wagen. »Du gehst jetzt zum Arzt. Und wenn ich dich eigenhändig ins Sprechzimmer schleppe. Mal sehen, ob Kirby wenigstens halb so gut ist, wie sie glaubt.«
»Ich bin nicht krank.«
»Dann brauchst du ja auch keine Angst vor einer Untersuchung zu haben.«
»Ich hab’ keine Angst, ich bin sauer. Und ich denke gar nicht daran, Kirbys Zeit zu verschwenden.«
Er bog in die schmale Auffahrt, brachte den Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen und packte seine Schwester an der Schulter. Seine Augen funkelten. »Du kannst jetzt wie ein normaler Mensch reingehen oder mich zwingen, dich über der Schulter in die Praxis zu schleppen. Du hast die Wahl, Jo Ellen.«
Sie starrten einander an. Jo begriff, daß er mindestens so wütend wie sie selbst war. In einem Wortgefecht hätte sie ihn vielleicht zur Strecke gebracht. Aber in einer körperlichen Auseinandersetzung hatte sie gegen ihn nicht die geringste Chance.
Erhobenen Hauptes stieg sie aus dem Wagen und ging die Stufen zu Kirbys Cottage hoch.
Kirby war in der Küche und gerade damit beschäftigt, sich ein Brot zu schmieren. »Hi.« Sie leckte sich die Erdnußbutter vom Daumen, während sie – noch ihr Begrüßungslächeln im Gesicht – erstaunt von einer finsteren Miene in die andere schaute. Seltsam, dachte sie, wie sich die beiden auf einmal ähneln. »Wollt ihr auch ein Brot?«
»Hast du Zeit für eine Untersuchung?« fragte Brian knapp und schob seine Schwester ein Stück nach vorn.
Kirby biß in ihr Brot, während Jo ihren Bruder mit einem grimmigen Blick
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