Insel der Traumpfade Roman
spärlichen Schatten eines kleinen Segels. Die nackten Zehen lugten unter dem Saum ihres dünnen Baumwollkleides hervor. Sie tupfte sich den Schweiß vom Gesicht und sah ein paar Passagieren zu, die drei Seeleute zu einem Kartenspiel überredeten. Kinder liefen umher und standen allen im Weg, und eine schnatternde Schar Frauen plauderte über ihrer Näharbeit im Schatten eines Segels, das man über das Achterdeck gespannt hatte. Bertie schien einigermaßen zufrieden, nachdem er mit einem Eimer Meerwasser übergossen worden war, doch um die Schafe machte Alice sich Sorgen.
»Guten Tag, Miss Hobden.«
Die tiefe, melodische Stimme unterbrach ihre Gedanken, und Alice schaute auf, als ein Schatten auf ihre Beine fiel. Mr Carlton war älter, als sie gedacht hatte, doch die grauen Strähnen an den Schläfen waren seinem guten Aussehen nur zuträglich. Hemd und Kniehose saßen tadellos, Haupthaar und Schnurrbart waren glatt gebürstet. Wie konnte jemand bei dieser Hitze nur so kühl und entspannt auftreten?, fragte sie sich und zog die nackten Füße rasch unter den Rock.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze? Wie es aussieht, sind alle Schattenplätze belegt.«
Sie rückte zur Seite und war sich peinlich bewusst, dass sie keine Stiefel trug, ihr Kleid von Schweiß durchnässt war und wie eine zweite Haut an ihr klebte – doch ein Blick sagte ihr, dass ihm das nicht aufgefallen war; er schaute über das Schiff hinaus zum Horizont.
»Vermutlich machen Sie sich noch immer Sorgen um die Schafe«, sagte er nach kurzem Schweigen.
»Gewiss. Da unten ist es erdrückend heiß, und sie brauchenstündlich Wasser – so wie Sie, wenn Sie gezwungen wären, bei dieser Hitze einen Wollmantel zu tragen.«
Ein Lächeln erhellte seine Miene. »Dann müssen wir Gott für kleine Wohltaten danken«, erwiderte er.
»Wohl wahr«, sagte sie und faltete die Hände im Schoß. Ihre eingeschlafenen Füße kribbelten, und obwohl sie sich über seine Gesellschaft freute, wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hatte noch nie eine richtige Unterhaltung mit einem Mann von Stand geführt.
»Fühlen Sie sich nicht wohl in meiner Gegenwart?«
Schüchtern begegnete sie seinem Blick. »Schon möglich«, gab sie zu. »Ich bin es wohl nicht gewohnt, mich zu unterhalten, während ich auf dem Boden hocke.«
Er lachte. »Vielleicht werden wir neue Maßstäbe setzen, Miss Hobden.«
»Es ist ein wenig unbequem, Mr Carlton. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Anklang finden wird.«
»Sie machen mich neugierig«, sagte er nach kurzer Pause. »Sie reisen allein mit Schafen und einem Pferd in eine Strafkolonie, die kaum zivilisiert ist – dennoch scheint Sie diese Aussicht nicht zu ängstigen. Die meisten Frauen wären inzwischen in Schwermut verfallen.«
»Ich bin nicht wie die meisten Frauen«, antwortete sie, ohne zu überlegen, biss sich dann aber auf die Lippen und entschuldigte sich.
»Das kann ich nur bestätigen«, erwiderte er. »Das war schon ersichtlich an dem Abend, als ich Sie davor bewahrt habe, über Bord gespült zu werden.« Er betrachtete sie eine Weile. »Erzählen Sie mir etwas über sich, Miss Hobden! Wer ist der Glückliche, der in Sydney Harbour auf Sie wartet?«
Alice fragte sich flüchtig, ob er nur höflich sein wollte, doch anscheinend war er wirklich interessiert, und sie kam sich nicht mehr so unbeholfen vor. »Woher wollen Sie wissen, dass jemand auf mich wartet?«, fragte sie.
»Stimmt es nicht?« Seine grauen Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Er heißt Jack Quince.«
»Ein guter, solider Name«, sagte Carlton. »Er ist bestimmt beim Militär?«
»Wohl kaum. Er ist Farmer, in Sussex geboren und aufgewachsen, und ich habe mich schon zu Schulzeiten in ihn verliebt.« Sie schaute auf den spiegelglatten Ozean, dessen Helligkeit in die Augen stach. »Damals hatten wir so hochfliegende Pläne …«
»Erzählen Sie«, lockte er sie.
»Als Jack den Bauernhof seiner Eltern erbte, begannen wir unsere Hochzeit vorzubereiten, aber drei Wochen vor dem festgesetzten Tag wurde Jack fälschlich beschuldigt, den Bullen eines Nachbarn gestohlen zu haben. Er wurde von der Farm geschleppt und in ein Sträflingsschiff auf der Themse geworfen.« Ihre Stimme brach. Es schmerzte, über diese einsamen Monate zu sprechen, in denen Jacks Zukunft in den Händen anderer gelegen hatte.
Sie schaute den schweigenden Gefährten an, und die Wut verlieh ihr mehr Selbstsicherheit. »Der Nachbar war schon jahrelang
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