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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman
Autoren: Colleen McCullough
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geschickter Stoß mit dem Stock, und die Ladung saß sauber in der Zündkammer am Ende des Laufes. Richard hob die Muskete an die Schulter und klopfte zugleich auf die Zündpfanne, um Pulverreste aus dem Zündloch zu entfernen. Dann drückte er ab. Der Hahn mit dem Feuerstein schnappte hinunter und schlug auf den Zündpfannendeckel. Funken sprühten, das Pulver explodierte, und eine mächtige Qualmwolke stieg auf. Eine Flasche, die in knapp vierzig Metern Entfernung auf einem Brett vor der Wand des Schießstands stand, zersprang.
    »Du hast immer noch eine sichere Hand«, sagte Senhor Habitas
anerkennend, während der barfüßige Junge mit einem Besen die Scherben zusammenkehrte und eine neue Flasche aufstellte.
    »Sagen Sie das, wenn ich mit allen zehn durch bin.« Richard grinste. Neun Musketen funktionierten perfekt. Bei der zehnten musste die Feder des Zündpfannendeckels nachgestellt werden, eine einfache Sache, weil die Feder außerhalb des Zündschlossmechanismus angebracht war.
     
    Bei seiner Rückkehr in das Cooper’s Arms nahm Richard den kleinen William Henry aus seinem Hochstuhl und drückte ihn fest an sich. Er musste sich beherrschen, dass er das Kind nicht erdrückte. William Henry, wie sehr ich dich liebe! Ich liebe dich so sehr wie das Leben, wie die Luft, wie die Sonne, wie Gott im Himmel! Er drückte die Wange an die Locken seines Sohnes und schloss die Augen. Auf einmal lief ein ganz leichtes, krampfartiges Zittern durch den kleinen Körper, unsichtbar wie das Schnurren einer Katze. Richard spürte es nur mit den Fingerspitzen. Etwas quälte seinen Sohn. Quälte ihn? Richard riss die Augen auf und hielt William Henry auf Armeslänge von sich weg. Das Gesicht des Kindes wirkte verschlossen, in sich gekehrt.
    »Er hat dich überhaupt nicht vermisst«, sagte Dick.
    »Und er hat alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen«, fügte Mag stolz hinzu.
    »Er war so lieb zu mir«, sagte Peg mit stiller Genugtuung.
    Richard bekam weiche Knie. Er sank in einen Stuhl vor dem Schanktisch und schmiegte sich wieder an seinen Sohn. Das Zittern war vergangen. An was denkst du jetzt, William Henry? Dachtest du, dein Papa würde nie mehr zurückkommen? Bis jetzt war er nie länger als eine oder zwei Stunden weg. Haben die anderen dir nicht gesagt, dass ich bis zur Abenddämmerung wieder da bin? Nein. Ich habe ja auch nicht daran gedacht. Du hast nicht geweint oder das Essen verweigert. Aber du dachtest, ich würde nicht mehr zurückkommen und nicht mehr für dich da sein. »Ich werde immer für dich da sein«, flüsterte er in William Henrys Ohr. »Immer und ewig.«
    Tränen stiegen ihm in die Augen. Er spürte, dass Dick ihn anstarrte,
als sei er verrückt geworden. Er schnaubte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
    »Wie ist es dir ergangen?«, fragte Peg. Sie staunte immer noch über ihren Mann. Warum Tränen? War das Schwäche? Weichheit? Es ist nicht normal, dachte sie. Er braucht das Kind aus einem Grund, von dem ich keine Ahnung habe. Dabei liebe ich William Henry genauso wie er! Jetzt habe ich meinen Sohn endlich für mich, Gott sei Dank.
    »Gut«, antwortete Richard, dann sah er Dick an. Er wirkte etwas verlegen. »Ich habe heute ein Pfund verdient, Vater. Zehn Schillinge für dich, zehn für mich.«
    »Nein«, sagte Dick schroff. »Fünf für mich, fünfzehn für dich. Das reicht mir, selbst wenn den ganzen Tag lang kein einziger Gast erscheint. Zahl mir noch zwei Schillinge Essensgeld für deine Familie und behalte die übrigen dreizehn Schillinge. Senhor Habitas bezahlt doch hoffentlich jeden Samstag und nicht erst am Monatsende oder nachdem er bezahlt worden ist?«
    »Jeden Samstag, Vater.«
    Als Richard sich in jener Nacht auf Pegs Seite drehte und behutsam ihr Nachthemd hochschieben wollte, schlug sie ihm auf die Hand.
    »Nein, Richard«, flüsterte sie böse. »William Henry schläft noch nicht, und er ist alt genug, um zu verstehen, was vor sich geht!«
    Verwirrt drehte Richard sich zurück und hörte dem Schnarchen aus dem Vorderzimmer zu. Er war hundemüde von der ungewohnten Arbeit und doch hellwach. Heute hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Er arbeitete wieder in seinem Beruf, der ihm so viel bedeutete, und er war tagsüber von seinem Kind getrennt, das er liebte, und von seiner Frau, die er ebenfalls liebte. Und er wusste jetzt, dass er, ohne es zu wollen, geliebte Menschen verletzen konnte. Dabei war doch eigentlich alles ganz einfach. Er handelte nur aus Liebe - er
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