Insel der Verlorenen Roman
Prozent der Kunst des Büchsenmachers aus. Richard war darin so geschickt, dass sein Bruder William niemand anders die Zähne seiner Sägen schärfen ließ, wenn sie stumpf geworden waren.
Richard nahm den ersten Lauf in die Hand, um den Rost zu entfernen und den Stahl mit Antimonfett einzureiben. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er seinen Beruf vermisst hatte. Sechs Jahre! Eine lange Zeit. Doch seine Hände waren sicher, und er freute sich auf das vor ihm liegende Geduldsspiel. Dass die Waffe dazu diente, Menschen zu töten, daran dachte Richard in diesem Augenblick nicht.
Er kannte die Brown Bess in- und auswendig und wusste, dass
man mit ihr auf Entfernungen von bis zu 40 Metern am besten traf. Auf Entfernungen von über 100 Metern dagegen nützte sie so gut wie nichts. Man musste dem Gegner sehr nahe kommen, bevor man feuerte, und auch ein guter Schütze konnte höchstens zwei Schüsse anbringen, bevor er entweder zum Bajonett greifen oder sich zurückziehen musste. Eine Brown Bess wurde in einer Schlacht selten öfter als zwanzigmal abgefeuert. Pro Schuss brauchte man nur 70 Gran Schießpulver - weniger als eine fünftel Unze. Richard wusste auch, wie man Schießpulver herstellte, denn er hatte einen Teil seiner Lehrzeit in der Pulverfabrik von Tower Harratz in Temple Meads am Avon verbracht. Er wusste außerdem, dass wahrscheinlich nur jede dritte von ihm angefertigte Muskete jemals im Kampf eingesetzt wurde. Das Kaliber der Muskete entsprach in etwa dem von französischen, portugiesischen und spanischen Waffen, sodass auch Kartuschen aus diesen Ländern verwendet werden konnten. Und wer von einer Musketenkugel getroffen wurde, hatte nur geringe Überlebenschancen. Bei einem Brust- oder Bauchschuss wurden die inneren Organe zerfetzt. Traf der Schuss einen Arm oder ein Bein, wurden die Knochen so zerschmettert, dass nur noch die Amputation blieb.
Zwei Stunden brauchte Richard, um die erste Brown Bess zusammenzubauen. Doch dann hatte er seinen Arbeitsrhythmus wieder gefunden, und gegen Ende des Arbeitstages brauchte er nur noch eine Stunde dafür. Für ihn waren die zwei Schillinge pro Muskete ein fabelhafter Lohn, aber Senhor Tomas Habitas verdiente daran noch mehr. Nach Abzug der Unkosten für die Bauteile und für Richards Lohn blieben ihm noch zehn Schillinge pro Muskete. Es gab billigere Büchsenmacher, aber ein Produkt der Habitas-Werkstatt funktionierte zuverlässig. Wurde die Brown Bess richtig bedient, gab es kein Nachbrennen und keine Blitze auf der Pulverpfanne. Senhor Habitas war persönlich zugegen, wenn seine Büchsenmacher die von ihnen hergestellten Musketen zur Probe abfeuerten.
»Ich beschäftige in der Produktion keine Lehrlinge, sondern nur ausgebildete Büchsenmacher«, sagte er auf dem Weg zum Schießstand zu Richard. Sie wollten das verbleibende Tageslicht nutzen,
um die neuen Waffen zu testen. »Und am liebsten nur welche, die ich selbst ausgebildet habe.« Er wurde plötzlich ernst. »Der Krieg ist eines Tages wieder aus, lieber Richard. Ich gebe ihm noch drei bis vier Jahre, und danach werden die Franzosen so schnell keinen mehr gegen uns führen. Deshalb haben wir jetzt zwar reichlich Arbeit, aber sie wird abnehmen, und dann muss ich dich wieder entlassen. Deshalb zahle ich dir zwei Schillinge pro Muskete. Ich habe nie jemand besser arbeiten sehen, und du bist schnell.«
Richard schwieg, doch entsprach das so sehr seiner Natur, dass Tomas Habitas gar keine Antwort erwartet hatte. Richard war ein Zuhörer. Er nahm in sich auf, was man zu ihm sagte, sagte aber nie selbst etwas nur um des Redens willen. Das Gesagte speicherte er in seinem Gedächtnis, um es im Bedarfsfall von dort wieder hervorzuholen. Vielleicht, dachte Habitas, habe ich ihn deshalb so gern, von seiner guten Arbeit einmal abgesehen. Er ist ein wahrhaft friedlicher Mensch, der ganz in sich selbst ruht.
Die zehn Musketen, die Richard zusammengebaut hatte, standen in einem Gewehrständer bereit. Gebracht hatte sie der zehnjährige Junge, den Habitas als Laufburschen beschäftigte. Richard nahm die erste Waffe, zog den Ladestock aus der Halterung unter dem Kolben und holte aus einem Karton eine Kartusche. Kugel und Pulver waren in einem Papierbehälter zusammengepresst. Richard sammelte Speichel im Mund, dann biss er kräftig in das Papier. Das Papier wurde feucht und riss auf. Richard schüttete das Pulver in den Lauf, zerknüllte das Papier und drückte es dem Pulver hinterher, dann schob er die Kugel nach. Ein
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