Insel der Verlorenen Roman
nachdem ihm zu Ohren gekommen war, was Dyer, Francis und Konsorten mit ihrem Zuckerrohr beabsichtigten.
Für Kitty war es der glücklichste Tag seit dem Tod ihres Vaters. Für die Frauen wurde Segeltuch von der Sirius im Gras ausgebreitet, und die Schwangeren erhielten zusätzlich Kissen, die ihnen das Sitzen erleichterten. Die Väter gingen mit den Kindern an den Strand, plantschten und bauten Sandburgen, und die Mütter hielten einen gemütlichen Plausch und tranken Tee, den Kitty für sie gekocht hatte. Als die Männer später vom Strand zurückkehrten, setzten sie sich etwas abseits ins Gras und unterhielten sich, während die Frauen die Bratspieße drehten, Schüsseln mit Kopfsalat, Sellerie, rohen Zwiebeln und Bohnen anrichteten und Kartoffeln in der Glut rösteten. Gegen zwei Uhr nachmittags war das Essen fertig. Die Männer gesellten sich zu den Frauen, brachten einen Toast auf Seine Britannische Majestät aus und hielten nach dem Festschmaus mit den Kindern ein Verdauungsnickerchen.
Wie ungezwungen sie miteinander auskamen, dachte Kitty. Sie hatten alle dasselbe durchgemacht. Sie waren ein neuer Schlag von Engländern, und was sie aus ihrem Leben machten, würde immer
davon beeinflusst bleiben, dass sie von den besseren Leuten als unerwünscht hierher geschickt worden waren. Aber die so genannten »besseren Leute« waren gar nicht besser, sondern Menschen mit einem beschränkten Horizont. Und wie aus heiterem Himmel hatte Kitty plötzlich das Gefühl, dass keiner dieser Sträflinge jemals nach England zurückkehren würde. Diese Menschen hatten die Achtung vor England verloren und hier eine neue Heimat gefunden.
Und sie selbst? Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen und das Kinn darauf gelegt und ließ nun den Blick über das Riff wandern, das unter schäumenden Brechern und wirbelnder Gischt verschwand. Seine Schönheit ließ sie keineswegs kalt, vermochte sie aber nicht wirklich zu rühren. Die wahre Schönheit war Eltham, das sie nun vor ihrem geistigen Auge sah, ein großes solides Steinhaus mit Flügelfenstern und blühenden Rosensträuchern, mit Levkojen, Akeleien, Löwenmaul, Stiefmütterchen, Fingerhut, Schneeglöckchen und Narzissen, Apfelbäumen, Eiben und Eichen, saftigen grünen Wiesen, zottigen weißen Schafen, Birken und Buchen. Oh, wie der Blumengarten ihres Vaters geduftet hatte! Die friedliche Beschaulichkeit, die über allem menschlichen Tun und Streben lag. Die Schönheit von Norfolk Island war ihr zu fremd, zu wild. Sie duckte den Menschen und machte ihn klein. Die Schönheit von Eltham erhöhte ihn.
Sie schaute auf und bemerkte, dass Stephens Augen auf ihr ruhten. Sie errötete. Erschrocken sah er weg und blickte aufs Riff hinaus. Ach, Stephen! Warum liebst du mich nicht? Richard würde mich bestimmt gehen lassen - ich weiß es. Ich bin nicht der Mittelpunkt seines Lebens. Er schickt mich in mein Zimmer und verriegelt die Tür zwischen uns. Aber nicht weil ich ihn in Versuchung führe. Dann wäre der Riegel auf meiner Seite der Tür. Er sperrt mich aus. Tut so, als sei ich überhaupt nicht da. Stephen, warum willst du mich nicht lieben, wo ich dich doch so liebe? Ich möchte dein liebes Gesicht mit Küssen bedecken, es in meine Hände nehmen und dir in die Augen blicken und in ihrem Blau meine Liebe leuchten sehen wie die Sonne am Himmel von Norfolk Island. Warum willst du mich nicht lieben?
Als die Sonnenstrahlen ihre Kraft verloren und die Kinder müde wurden, packte die Gesellschaft zusammen und machte sich gemeinsam auf den Nachhauseweg. Eine Familie nach der anderen verabschiedete sich unterwegs von Richard und Kitty, als Letzte Nat und Olivia. Olivia hatte erst kürzlich ihren Sohn William zur Welt gebracht. Er war der ganze Stolz ihrer beiden Zwillingstöchter. Was für nette Leute!
»Hat dir dein erstes Antipodenweihnachten gefallen?«, fragte Richard.
»Was für ein Weihnachten? Aber ja, natürlich.«
»Antipoden. Das ist das korrekte Wort für das andere Ende der Welt - Antipoden. Es kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie ›Gegenfüßler‹.«
Die Sonne versank hinter den Hügeln im Westen und tauchte Richards Land in kühlen Schatten.
»Soll ich Feuer machen?«
»Nein, ich gehe bald zu Bett«, sagte Kitty traurig, mit ihren Gedanken bei Stephen. Natürlich wusste sie, warum er weggesehen hatte. Sie war hässlich, dürr wie ein Besenstiel. Und obwohl sie froh war, dass sie wieder zunahm, bildete sie sich ein, dass ihre Brüste nicht so schön, ihre
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