Insel der Verlorenen Roman
dem Nebengebäude, in dem die Küche untergebracht war.
Über den Herd gebeugt stand eine dunkel gekleidete Gestalt.
»Mrs Morgan?«
Die Gestalt wandte sich um, und ihre dunklen Augen weiteten sich. Ein junges Mädchen sah vom Kartoffelschälen auf, legte das Messer auf den Tisch und riss den Mund auf. Lizzie trat zu ihr und gab ihr einen Schubs. »Mach draußen weiter!«, sagte sie barsch. Dann, zu Kitty gewandt: »Was wollen Sie, Madame?«
»Ich bringe Ihnen einen Hut.«
»Einen Hut?«
»Ja. Wollen Sie ihn nicht sehen? Er ist wirklich prachtvoll.«
Kitty sah wie das blühende Leben aus. Ihr Bauch wölbte sich bereits ein wenig. Sie trug einen breitkrempigen, aus einem zähen Gras geflochtenen Sonnenhut. Mit den Sträflingstransporten waren viel mehr Hutmacher als Bauern angekommen. Unter der Krempe standen ein paar hübsche blonde Strähnen hervor. Kittys blonde Wimpern und Augenbrauen ließen ihr Gesicht zwar etwas kahl erscheinen, doch störte das irgendwie nicht. Ihr Körper hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der klapperdürren Gestalt von einst. Lizzie hatte schon davon gehört und jetzt sah sie es selbst, aber das tröstete sie keineswegs, ebenso wenig wie Kittys dicker Bauch. Bitterkeit stieg in ihr auf. Wo stand nur ihre Arzneiflasche?
»Setzen Sie sich«, sagte sie kurz, dann trank sie so gierig von ihrer Arznei, dass sie kaum mehr Luft bekam.
Kitty hielt ihr lächelnd die Hutschachtel hin. »Bitte nehmen Sie sie.«
Lizzie nahm die Schachtel, setzte sich auf einen Stuhl, löste die Bänder und nahm den Deckel ab. »Oooh!«, seufzte sie wie zuvor schon Kitty. »Oooh!«
Sie holte den Hut heraus, hielt ihn von sich weg und betrachtete ihn gedankenverloren. Dann heulte sie plötzlich los, so plötzlich und heftig, dass Kitty zusammenzuckte.
Auf dem Kaminsims stand ein kleiner Wasserkessel, auf dem Tisch eine alte Teekanne aus Porzellan. Eine Tasse Tee, das konnte Lizzie jetzt gebrauchen. Nach kurzer Suche fand Kitty auch Teeblätter und einen Zuckerhut nebst einem Hammer. Kitty bereitete den Tee zu, ließ ihn ziehen, schlug von dem Zuckerhut etwas Zucker ab und goss die dampfende Flüssigkeit in eine Porzellantasse. Sogar Untertassen gab es. Wie gut der Amtssitz des Inselkommandanten ausgestattet war! Tassen und Untertassen sogar in der Küche und auch noch vom selben Service! Das hatte Kitty seit ihrer Verhaftung nicht mehr erlebt. Welche Schätze wohl erst das Haupthaus barg? Wie viele Bedienstete hatten Mr und Mrs King eigentlich? Gab es Tee nach Belieben, ohne Sorge, der Vorrat könnte zur Neige gehen? Hatten sie Schüsseln, Teller und Terrinen aus Porzellan? Gemälde an der Wand? Nachtgeschirr?
»Mr King hat mir soeben gekündigt«, brachte Lizzie schließlich schluchzend heraus.
»Jetzt trink erst mal den Tee, der tut dir bestimmt gut«, tröstete Kitty sie und strich ihr über die schwarzen Haare.
Lizzie trocknete sich die Tränen mit ihrem Schurz ab und sah Kitty traurig an. »Du bist wirklich ein nettes Mädchen«, sagte sie. Der Tee verbreitete in ihrem Magen eine angenehme Wärme.
»Das hoffe ich doch.« Kitty nippte geziert an ihrem Tee. Warum schmeckte Tee eigentlich so gut, wenn man ihn aus einer Porzellantasse trank? »Gefällt dir der Hut?«
»Wie du gesagt hast: Er ist prachtvoll. Major Ross hätte gesagt, ich sehe damit aus wie eine Königin. Mrs King würde das nie sagen. Dabei ist sie sehr höflich, und sie hat sicher keine Schuld an meiner Entlassung. Dafür ist Kommandant King verantwortlich.
Und Chapman, dieser gerissene Kerl. Der überlegt schon, wie er hier einen Haufen Geld machen kann. Auf Mrs King hat er auch einen schlechten Einfluss, und der Kommandant merkt das auch allmählich. Willy Chapman kommt bald nach Queensborough oder Phillipsburgh, das sage ich dir. Aber Kommandant King mag mich nicht, Kitty, das steht nun mal fest. Er hält mich für zu vulgär für seine Frau. Vulgär! Ich! Der weiß doch gar nicht, was vulgär ist! Sagt, er will nicht, dass mich seine Kinder reden hören. Gut, manchmal vergesse ich mich und sage schon mal ›Scheiße‹, vielleicht auch zweimal. Aber ›Möse‹ gibt’s bei mir nicht, Kitty, ›Möse‹ sage ich nie, das schwöre ich! Ich habe solche Wörter auch erst im Gefängnis gelernt. Früher habe ich nie geflucht oder Schimpfwörter gebraucht.«
»Ich verstehe genau, was du meinst«,sagte Kitty voller Anteilnahme.
»So oder so, er kann mich nicht einfach rauswerfen. Da muss er sich schon noch was einfallen lassen.« Lizzie
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