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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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herumgehen, da streckte sie den Fuß aus.
    » Bon jour «, sagte sie.
    Verblüfft starrte er auf das bezauberndste weibliche Gesicht hinunter, das ihm je begegnet war. Große, schwarze Augen, ernst und frech zugleich, lange Wimpern, rosige Wangen mit Grübchen,
volle, ungeschminkte Lippen, eine makellose Haut und ein wilder Schopf glänzend schwarzer Locken. Mein Gott, war sie schön!
    »Guten Tag«, sagte er, lüftete den Hut und verbeugte sich.
    »Auch Ihnen einen guten Tag, Monsieur«, antwortete sie mit französischem Akzent. »Für den armen Willy’at der Tag leider sähr schlecht angefangen.«
    »Willy Insell?«
    » Oui. « Sie stand auf und zeigte dabei, dass ihr Körper ähnlich wohlgeformt war wie ihr Gesicht. Sie trug Kleider aus rosa Seide, die ihr vortrefflich standen, Kleider, die ein Vermögen gekostet haben mussten. »Ja, Willy«, fügte sie hinzu, und sie sprach den Namen mit solcher Bewunderung aus, dass Richard lächeln musste.
    »Sie sind ein schöner Mann, Monsieur«, stieß sie etwas atemlos hervor.
    Richard war Fremden gegenüber sonst eher schüchtern, nicht jedoch bei ihr, trotz ihrer Direktheit. Er spürte, dass er rot wurde, und wollte seine Augen von ihr abwenden, aber er konnte nicht. Sie war wirklich erstaunlich schön. Ihr Dekolleté mit den weichen, weißen Brüsten verwirrte ihn noch mehr als ihr Gesicht.
    »Ich heiße Richard Morgan«, sagte er.
    »Und ich Annemarie Latour. Ich bin Mrs Bartons Dienstmädchen. Ich wohne’ier.« Sie kicherte. »Nicht bei Willy!«
    »Sie sagten, er sei krank?«
    »Kommen Sie’erein und sehen Sie selbst.« Sie stieg ihm voraus die enge Treppe hinauf. Unter ihrem Kleid wurden mehrere Rüschenunterröcke sichtbar und darunter zwei äußerst wohlgeformte Knöchel. »Willy!«, rief sie. »Willy! Du’ast Besuch!«
    Richard trat in Insells Zimmer. Insell lag im Bett. Sein Gesicht war grün. »Was hast du, Willy?«
    »Ich habe verdorbene Austern gegessen«, stöhnte Insell.
    Annemarie war Richard ins Zimmer gefolgt und musterte Willy interessiert, aber mitleidlos. »Er musste unbedingt die Austern essen, die mir Mrs Barton gegeben hat. Ich’abe ihm gesagt, die alte Schachtel würde mir niemals frische Austern geben. Aber Willy roch daran und meinte, sie seien in Ordnung, also aß er sie. Et voilà! « Sie zeigte mit einer dramatischen Geste auf das Bett.

    »Dann geschieht es dir recht, Willy. Ist schon ein Arzt da gewesen? Brauchst du etwas?«
    »Nur Bettruhe«, ächzte der Kranke. »Ich habe schon so viel gespuckt, dass der Doktor meint, Austern könnten in meinem Magen keine mehr sein. Ich fühle mich schrecklich.«
    »Aber du lebst, das ist das Wichtigste. Nur wenn du meine Aussage bestätigst, kann Mr Fisher vom Steueramt Anklage erheben. Ich sehe morgen wieder vorbei.«
    Richard stieg die Treppe hinunter. Annemarie Latour folgte so dicht hinter ihm, dass er die feine Bristoler Seife roch. Kein Parfüm, sondern Seife, Lavendelseife. Wie kam es, dass ein solches Mädchen allein in einem Mietshaus in Clifton wohnte? Dienstmädchen wohnten doch normalerweise bei der Herrschaft. Außerdem hatte Richard noch nie ein Dienstmädchen in Seide gesehen. Waren das vielleicht abgelegte Sachen von Mrs Barton? Wenn ja, dann musste Mrs Barton, die Annemarie eine »alte Schachtel« genannt hatte, eine ausgezeichnete Figur haben.
    » Bon jour , Monsieur Richard«, sagte Annemarie Latour. »Wir sehen uns morgen, non ?«
    Richard nickte, setzte den Hut auf und machte sich auf den Rückweg.
    In seinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander, denn er wollte zwei Dinge gleichzeitig: Einerseits musste die Suche nach William Henry weitergehen, andererseits konnte er Annemarie Latour nicht vergessen. Sie hatte sich in ihm eingenistet wie ein zerstörerischer Wurm. Denn so sah er sie mit untrüglichem Instinkt, sein verräterischer Körper mochte noch so sehr in Wallung geraten. Zu oft hatte er in Wirtshäusern erlebt, wie Männer beim Anblick eines Weiberrocks den Verstand verloren.
    Aber warum passierte ihm das jetzt und warum ausgerechnet mit dieser Frau? Peg war erst seit neun Monaten tot und die offizielle Trauerzeit noch nicht zu Ende. An körperliche Bedürfnisse durfte er nicht einmal denken. Er hatte seinen körperlichen Bedürfnissen auch nie große Bedeutung eingeräumt. Seine Frau war seine einzige Liebe gewesen, nie hatte er eine andere Frau ernsthaft begehrt.

    Weder Zeit noch Ort passen, dachte er beim Weitergehen. Wenn es nicht diese Frau wäre, diese

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