Insel des Sturms
Menschen, denen du nie zuvor begegnet bist, und um eine Arbeit in Angriff zu nehmen, die du nie zuvor getan hast.«
»Das ist etwas anderes.«
»Warum?«
»Ich bin hier, weil ich vor meinem Leben in Chicago davonlaufen wollte.«
Er empfand gleichermaßen Ungeduld wie Mitgefühl mit ihr. »Also, Langeweile hin oder her, jedenfalls bist du entsetzlich störrisch. Von dir könnte ein Maulesel noch lernen. Was ist falsch daran, fortzugehen von einem Ort, an den du einfach nicht gepasst hast? Folgt daraus nicht automatisch, dass du nach dem Fortlaufen irgendwo anders angekommen bist? An einem Ort, der dir eher gemäß ist?«
Sie war viel zu müde, viel zu sehr von ihrem alten Schmerz aufgewühlt, um darüber nachzudenken. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Selber bin ich auch oft genug weggerannt. Immer wieder hin und her. Und am Ende bin ich dort gelandet, wo ich hingehöre.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Und genauso wird es dir gehen.«
Dann trat er einen Schritt zurück und strich ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. »Jetzt setz dich wieder und mach es dir gemütlich, während ich unten im Pub noch etwas erledige. Und dann bringe ich dich heim.«
»Nein, schon gut. Das schaffe ich alleine.«
»Du läufst nicht durch den Regen und die Dunkelheit, solange
du traurig bist. Bleib bitte hier auf dem Sofa sitzen und trink deinen Tee. Es wird nicht lange dauern.«
Ehe sie nochmals widersprechen konnte, ließ er sie allein, trat in den Korridor hinaus und blieb dort, um sich zu sammeln, ein paar Minuten stehen.
Er unterdrückte seine Enttäuschung darüber, dass sie ihm bisher nichts von ihrer Ehe erzählt hatte. Auf Grund seines Glaubens und seiner eigenen Wertvorstellungen nahm er eine solche Bindung äußerst ernst. Eine Ehe war ein Bund, den man nicht einfach nach Gutdünken schloss und wieder löste – sie war ein Bund, den man für alle Zeiten einging.
Ihre Ehe war ohne ihre Schuld zerbrochen, aber trotzdem hätte sie ihm davon erzählen sollen. Einfach aus Prinzip.
Und er müsste vorsichtig damit umgehen, warnte Aidan sich. Er müsste darauf achten, dass er ihre in der gescheiterten Ehe begründeten besonderen Empfindlichkeiten respektierte, dass er ihr Elend nicht noch verstärkte.
Himmel, dachte er und massierte sich auf dem Weg die Treppe hinunter den Nacken. Mit dieser Frau hatte er wirklich alle Hände voll zu tun.
»Was ist mit Jude?«, wollte Darcy wissen, als er die Küche betrat.
»Alles in Ordnung. Sie hat Nachrichten von zu Hause bekommen, die sie etwas aufgeregt haben.« Er griff nach dem Hörer des an der Wand hängenden Telefons, um Brenna anzurufen.
»Oh, nicht ihre Oma!« Darcy stellte das volle Tablett, das sie gerade hinaustragen wollte, wieder auf den Tisch und sah den Bruder voller Sorge an.
»Nein, nichts Derartiges. Ich werde Brenna anrufen und sie fragen, ob sie mich ein paar Stunden vertreten kann – weil ich Jude heimfahren möchte.«
»Tja, wenn Brenna keine Zeit hat, kommen Shawn und ich wohl auch so zurecht.«
Aidan sah seine Schwester mit einem Lächeln an. »Wenn du willst, kannst du wirklich ein Schatz sein, Darcy!«
»Ich mag sie ganz einfach, und ich glaube, sie braucht unbedingt ein bisschen Spaß in ihrem Leben. Scheint, als hätte sie sich bisher viel zu selten amüsiert. Und mit einem Mann verheiratet gewesen und von ihm verlassen worden zu sein, noch ehe der Brautstrauß welken konnte, ist ganz sicher …«
»Halt mal! Du weißt, dass sie verheiratet gewesen ist?«
Darcy zog verwundert eine Braue hoch. »Natürlich.« Sie griff erneut nach dem Tablett und brach auf. »Das ist schließlich kein Geheimnis.«
»Kein Geheimnis«, murmelte er, ehe er mit knirschenden Zähnen Brennas Nummer zu wählen begann. »Dann war anscheinend außer mir das ganze Dorf im Bilde.«
12
Bis Aidan wieder in die Wohnung kam und sie gemeinsam zu seinem Wagen gingen, hatte Jude Gelegenheit gehabt, sich halbwegs zu beruhigen und die ganze Angelegenheit nochmals zu überdenken.
Der Begriff Verlegenheit drückte ihr Befinden nur unzulänglich aus. Sie war in den Pub gestürzt gekommen, hatte den Mann an seinem Arbeitsplatz sexuell genötigt. Vielleicht fände sie die Erinnerung an ihren Auftritt ja irgendwann einmal – ihrer Schätzung nach in zwanzig oder dreißig Jahren – faszinierend oder sogar amüsant. Doch augenblicklich empfand sie nichts als abgrundtiefe Scham.
Und dann hatte sie einen Tobsuchtsanfall bekommen,
Weitere Kostenlose Bücher