Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
zerstört hatte? Und hatte sie es dann irgendwie vergessen?
Alice. Dieselbe Alice, die sich noch an den neuen Namen der Bar in Cargo Beach erinnern konnte, die früher Gasparilla’s geheißen hatte. Aber war das nicht typisch für Demenz? Dinge, die lange zurücklagen, waren klar und greifbar, während Dinge, die am Morgen geschehen waren, wie in einem dichten Nebelschleier lagen?
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Olivia zu. Das kleine Mädchen war eindeutig bekümmert. Tracy wollte das alles nicht noch schlimmer machen, aber sie musste einfach fragen. „Ist deine Großmutter dir normal vorgekommen, als ihr zu Janya spaziert seid?“
„Sie ist in letzter Zeit ständig müde, aber sie wollte trotzdem gehen.“
Tracy fragte sich, ob Alice möglicherweise einen weiteren kleinen Schlaganfall erlitten hatte. Der Gedanke gefiel ihr nicht, aber vielleicht hatte Lee wieder recht gehabt. Vielleicht brauchte Alice Ruhe und Frieden. Und stattdessen hatten sie sich bei Janya getroffen, hatten ungewöhnliche Gerichte gegessen und einen anstrengenden Bollywood-Tanz gelernt. Und zu Hause war die Ananas-Tischdecke, das Erbstück und Alices ganzer Stolz, nicht mehr als ein grauenhafter Haufen verwirrter Wollfäden gewesen, der auf ihrem Mülleimer gelegen hatte.
Auf der Mülltonne. Tracy runzelte die Stirn. Das ergab keinen Sinn. Hätte Alice den Deckel nicht angehoben und die Decke hineingestopft, um sie zu verstecken? Warum hätte sie den Beweis so offen liegen lassen und das Risiko eingehen sollen, dass Lee die Decke fand?
Und er hatte sie gefunden – sogar ehe man ihm überhaupt erzählt hatte, dass sie verschwunden war.
Wenn es um irgendetwas anderes gegangen wäre, hätte Tracy sich nicht so beunruhigt gefühlt. Doch Alice hatte das Tischtuch für ihre geliebte Enkelin gehäkelt, als eine Erinnerung an alle weiblichen Vorfahren in der Familie. Die Alice, die Tracy kannte, hätte einen Fehler in der Tischdecke eher dazu genutzt, um damit eine Lehre zu vermitteln: Nicht alles im Leben war perfekt, aber es konnte trotzdem wunderschön sein. Tracy hatte nie gehört, wie Alice diese Worte ausgesprochen hatte, aber sie war der Überzeugung, dass die alte Dame daran glaubte.
„Ist sie wach?“, fragte Tracy Olivia.
„Ich glaube nicht. Sie hat geweint. Viel. Aber irgendwann hat es aufgehört.“
Tracy wurde wieder übel. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie zog Olivia für eine kurze Umarmung an sich.
„Ich gehe dann mal wieder“, sagte sie. „Es ist wahrscheinlich nicht so gut, wenn dein Vater mich hier trifft. Aber du weißt ja, wo du mich findest, Olivia. Und du weißt, wo Janya und Wanda wohnen. Falls irgendetwas passiert und du denkst, dass ein anderer Erwachsener darüber Bescheid wissen sollte, komm einfach zu uns, und wir helfen dir. Das verspreche ich.“
„Daddy sagt, dass wir uns allein um Nana kümmern können und keine Hilfe brauchen.“
„Vergiss nur nicht, was ich dir gesagt habe, ja? Denn manchmal …“ Sie suchte nach den richtigen Worten, um das Folgende auszudrücken. „Manchmal können Daddys sich auch irren. Okay? Und manchmal können andere Erwachsene helfen, wenn ein Daddy nicht mehr weiterweiß. Vergisst du das nicht?“
Olivia nickte. Mit riesigen Augen blickte sie Tracy an.
Tracy schlüpfte aus der Tür.
Regen setzte ein, und das Donnergrollen klang näher. Ein ungewöhnlich heftiger Sturm zog auf. Tracy erschauderte und wünschte sich, sie könnte sich einfach verkriechen.
26. KAPITEL
C hase vergötterte Ken. Innerhalb weniger Wochen schien der Hund einen sechsten Sinn dafür entwickelt zu haben, wann Ken auftauchen würde. Zehn Minuten bevor Ken durch die Tür kam, machte Chase es sich wie ein lebender, atmender Türstopper auf der Schwelle bequem und rührte sich nicht, bis er Kens Schritte auf dem Gartenweg hörte. Da Ken praktisch zu jeder Tageszeit auftauchen konnte, war Chases Verhalten Wanda ein absolutes Rätsel. Leider war es nicht möglich, den Hund um eine Erklärung zu bitten.
Ken vergötterte Chase ebenso. Jedenfalls schien es so, wenn Wanda die unterschwelligen Anzeichen berücksichtigte. Er trat zum Beispiel nie nach dem Hund. Er beschwerte sich nicht über Hundehaare auf seinen Hosen. Er ging mit dem Tier spazieren, was vermutlich der Grund für Chases Liebe war. Da Chase nun wieder auf vier Pfoten laufen konnte – wenn auch noch immer vorsichtig –, verschwanden er und Ken oft lange miteinander. Wanda
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