Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
sie mit verschränkten Beinen in den Blättern einer Lotusblüte sitzend gezeichnet, die vier Arme ausgestreckt, einen friedlichen Ausdruck auf dem lieblichen Gesicht. Oder so lieblich, wie man das Gesicht eben mit einem Stock in den goldenen Sand malen konnte.
Um was genau würde sie Lakshmi bitten, wenn sie es könnte?
Sie machte einen Schritt zurück und betrachtete das Bild, überrascht, dass sie es geschaffen hatte. Das Zeichnen gehörte zu ihrem vergangenen Leben. Seit sie nach Florida gekommen war, hatte sie kein Verlangen verspürt, die Bilder in ihrem Kopf zu Papier zu bringen. Und doch war es ihr jetzt nicht schwergefallen. Es hatte sich ganz natürlich angefühlt. Aber das hier war ja auch nur Sand, und die Flut würde alle Spuren schon bald verwischt haben.
Wenn sie die Zeit gehabt hätte, dann hätte sie gewartet, um dem Meer dabei zuzusehen. Stattdessen machte sie sich wieder auf den Weg zu ihrem Haus. Rishi war schon fort, begierig, seinen Tag zu beginnen. Seine Begeisterung für Softwareentwicklung war ihr ein Rätsel. Genau wie seine Entscheidung, zwei wirklich gute Angebote von namhaften Firmen abzulehnen, in ihrer Entwicklungsabteilung mitzuarbeiten. Doch statt die Angebote anzunehmen, hatte er das Geld genommen, das er als Datenverarbeitungsberater während seines Aufbaustudiums an der Carnegie Mellon verdient hatte, und hatte es in die Vermarktung einer Reihe von Programmen investiert, die er für kleinere Firmen entwickelt hatte. Den Gewinn hatte er benutzt, um eine ehemalige Lagerhalle für Fischverarbeitung am Palmetto Beach zu mieten und seine eigene Softwarefirma zu gründen. Die Lagerhalle roch noch immer nach Fisch, das Büro war mit gebrauchten Möbeln aus erfolgreicheren Firmen bestückt, und er arbeitete mit einer Notbesetzung. Doch Rishi glaubte fest daran, dass diese mageren Jahre sich auszahlen würden. Er sagte, er sei bereit zu fliegen.
Einen Moment lang fragte Janya sich, wohin sie fliegen würde, wenn sie es könnte. Zurück nach Indien. Aber nur, wenn sie auch die Zeiger der Uhren zurückdrehen könnte. Und wenn nicht? Ihr fiel kein Ort ein, denn an jedem anderen Ort wäre sie wieder eine Fremde.
An der Tür zog sie die Sandalen aus und wischte sich den Sand von den Füßen. Dann ging sie hinein und setzte Wasser auf, um Tee zu kochen. Erst als der Tee fertig war, sie tief durchgeatmet und sich selbst an einem ruhigeren Ort vorgestellt hatte, griff sie zum Telefon. Zu Hause war es fünf Uhr am Nachmittag, und ihre Mutter hatte vermutlich gerade ihren Tee getrunken. Es war eine Angewohnheit, die ihre Familie strikt einhielt – es gab eine mit masala gewürzte Teemischung, die Janya jetzt auch trank, und dazu samosas, also gefüllte Teigtaschen, oder andere pikante Köstlichkeiten. Auch wenn ihre Mutter spät zum Einkaufen gegangen war, dann war sie nun zu Hause und stellte sicher, dass die Vorbereitungen fürs Abendessen getroffen wurden, dass das Haus sauber geputzt war und ihren Ansprüchen genügte und dass Janyas Bruder Yash fleißig lernte.
Janyas Eltern hatten gehofft, dass Yash ein College in Oxford besuchen würde. Doch ihr Bruder war – obwohl er sehr klug war – kein besonders gewissenhafter Mathestudent. Stattdessen kämpfte er sich nun durch ein örtliches Programm, um ein vereidigter Buchprüfer zu werden wie ihr Vater. Janya wusste, dass Yash tief in seinem Innern davon träumte, zu unterrichten, dass Geschichte das Fach war, das er eigentlich verfolgen wollte, und dass der Traum, in das Familienunternehmen einzusteigen, der Traum ihrer Eltern war. Doch Yash musste noch mit ihnen darüber reden. Sie fragte sich, ob er Angst hatte, dass sie ihm den Rücken zuwenden könnten, wenn er es ihnen sagte – so wie sie ihr den Rücken zugewandt hatten.
Schließlich wählte sie, so gelassen es ging, die lange Reihe von Nummern, die ihre Stimme heim nach Indien bringen würde.
Die Frau, die sich am Telefon meldete, war ihr nicht bekannt. Doch Janya fiel ein, dass ihre Mutter während einer ihrer unregelmäßigen Unterhaltungen erwähnt hatte, dass sie ein neues Mädchen eingestellt hatte, das ihr beim Kochen und Putzen half. Janya stellte sich der jungen Frau vor. Es folgte ein langes Zögern, als würde das Mädchen versuchen, sie einzuordnen. Janyas Kehle schnürte sich zusammen, als die Frau schließlich einwilligte, ihre Mutter ans Telefon zu holen.
„ Aii “, sagte sie in Marathi, als ihre Mutter sie begrüßte. „Es tut so gut, deine Stimme zu
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