Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
loszulassen. Stattdessen verstärkte sie ihren Griff um seine Schultern.
„Du hättest mich fast umgerannt!“
„Dann müssen Sie eben aufpassen, wohin Sie laufen!“
„Ich wusste, wohin ich laufe. Ich habe nur nicht damit gerechnet, angegriffen zu werden.“
„Ach so? Sie standen mir im Weg.“
„Ja? Tja, das wird dir noch öfter passieren, mein Junge. Denn du musst anhalten, wenn andere Leute vor dir da sind.“
„Lassen Sie mich los.“
Liebend gern wäre sie den Jungen losgeworden. Sie wollte ihn gerade freigeben, als ihr auffiel, dass er einen angespannten Blick über seine Schultern warf, während er sich aus ihrem Griff zu winden versuchte.
„Einen Moment mal.“ Sie hielt ihn wieder fester. „Vor wem läufst du davon?“
„Vor niemandem!“
„Die Schule ist doch noch nicht aus, oder? Was machst du dann hier? Solltest du nicht irgendwo im Unterricht sitzen?“
„Haben Sie schon mal was von Hausunterricht gehört?“, schrie er.
Einen Augenblick lang dachte Tracy darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. Niemand konnte die Geduld haben, diesen Jungen zu Hause zu unterrichten. Selbst die engagiertesten Eltern brauchten die Zeit, in der der Junge in der Schule war, um ihre innere Ausgeglichenheit wiederzufinden.
„Ich kann weder Mutter noch Vater sehen, die dir hinterherkommen“, sagte Tracy.
„Sie haben mich gehen lassen. Ich habe … äh … Tennisunterricht.“
„Doch nicht während der Schulzeit“, äußerte Tracy eine wohlbegründete Vermutung. „Deine Tennisstunde hast du ganz sicher erst später am Nachmittag.“
„Lassen Sie mich los!“ Er blickte wieder über seine Schulter und versuchte noch verbissener, sich von Tracy zu lösen. Dann drehte er sich um und trat Tracy gegen das Schienbein.
Sie schrie auf, nahm die Hände herunter und hielt damit ihr geschundenes Bein fest, während sie auf dem anderen Bein auf und nieder hüpfte.
Gladys Woodley kam aus dem Freizeitzentrum gestürzt. „Bay Egan! Bleibst du wohl sofort stehen! Die Schule hat gerade hier angerufen. Sie suchen dich schon überall.“
Das Kind sah aus, als wollte es wieder wegrennen. Dann ließ der Junge die Schultern hängen. Und dem resignierten Schulterzucken folgte eine Flut von Ausdrücken, die er eigentlich nicht kennen, geschweige denn wiederholen sollte.
Tracy hörte auf zu hüpfen und schnappte ihn sich wieder. „Hör sofort damit auf. Wo, glaubst du, bist du hier? In einem nicht jugendfreien Film?“
„Woher wussten die, wohin ich will?“, fragte Bay die ältere Frau.
„Oh, mal überlegen … Vielleicht weil du es schon öfter versucht hast?“, erwiderte Gladys.
„Und ich hätte es auch geschafft, wenn sie mich nicht aufgehalten hätte.“
Tracy sah Gladys an und zuckte die Achseln. „Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“
„Sie haben einen sechsten Sinn für schlechtes Betragen.“ Die andere Frau bedeutete ihr, dass sie wieder hineingehen wollte, und Tracy wusste, dass sie nun die Schule anrufen würde. Jemand würde bald vorbeikommen und den Jungen abholen. Tracy sollte ihn so lange festhalten.
Tracy wandte sich ihrem Schutzbefohlenen zu. „Warum bist du weggelaufen, Bay? Ist das dein richtiger Name? Bay?“
„Baylor.“ Er sagte es so, als wollte er sie herausfordern, sich darüber lustig zu machen.
„Ja, Bay ist gut. Das ist diese gerade angesagte Gepflogenheit, einen Nachnamen als Vornamen zu nehmen. Pech gehabt, würde ich sagen. Egal. Hör zu, die Schule ist doch fast vorbei, oder? Ich meine, es sind nur noch ein paar Tage bis zu den Ferien, wenn ich mich nicht irre.“
„Und?“
Sie ließ ihn los, aber sie hatte ihr Gewicht nach vorne verlagert, falls sie ihn wieder festhalten musste. „Wenn du jetzt wegläufst, wird irgendjemand dich dafür bestrafen, stimmt’s? Ich meine, sie erwischen dich immer irgendwie, oder?“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Das kannst du mir glauben. Und soweit ich es beurteilen kann, ist wegzulaufen nicht gerade deine starke Seite.“
„Wie … meine starke Seite?“
„Ich meine, das kannst du nicht so besonders gut. Also, warum gehst du nicht zurück in die Schule und hältst noch ein paar Tage durch? Wenn der Sommer dann da ist, bist du frei wie ein Vogel. Andererseits werden die da oben …“
„Wer die?“
„Na, deine Eltern. Sie werden dir nicht mehr vertrauen, dir nicht glauben, dass du das tust, was du tun sollst. Dann werden sie dich den ganzen Sommer über nicht mehr aus den Augen lassen. Du
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