Insel meiner Sehnsucht Roman
erregt.«
»Ja«, stimmte Kassandra vorsichtig zu, »es ist sehr – ausdrucksstark.«
»Damit hat er aller Welt bewiesen, welch ein genialer Geist ihn auszeichnet. Und ich muss zugeben – ich bin hingerissen.« Hastig fügte Annabella hinzu: »Natürlich von seinem Werk. Über ihn selbst weiß ich nicht viel.«
»Sind Sie ihm begegnet?«
Das Mädchen nickte. »Obwohl ich mich wahrlich nicht darum bemüht habe.«
Zunächst fand Kassandra diese Erklärung etwas verwirrend. Aber nachdem sie eine Zeit lang mit Lady Annabella Milbanke geplaudert hatte, begann sie zu verstehen, warum das Mädchen kein persönliches Interesse an dem ruhmreichen Poeten hegte.
Ein Raunen ging durch die Gästeschar, gefolgt von plötzlicher, atemloser Stille. Dann versammelten sich mehrere Leute am Eingang des Empfangsraums, und kurz danach hörte auch Kassandra, dass George Gordon, Lord Byron, soeben eingetroffen war.
Wenn sie auch eine gewisse Neugier verspürte – es drängte sie nicht, sich in das Getümmel der Bewunderer zu mischen, die einander beiseite schoben, um möglichst nahe an den Dichter heranzukommen. Dieses Ziel schien Annabella genauso wenig anzustreben, denn sie blieb an Kassandras Seite. Doch die Apfelbäckchen waren erblasst, und die runden Augen spiegelten einen inneren Konflikt zwischen Sehnsucht und Schrecken wider.
Wie Kassandra bald feststellte, war der Urheber dieser ganzen Aufregung ein Mann von Anfang zwanzig, etwas größer als sie selbst, gertenschlank und sonderbar gekleidet. Während die anderen Gentlemen dunkle Kniehosen, Fräcke und schmucklose Hemden trugen, bevorzugte Byron eine weite weiße Leinenhose, so weit geschnitten, dass man sie für einen Rock halten konnte, ein genauso ungewöhnliches voluminöses Hemd und eine bestickte Weste. Eine schwere Goldkette hing an seinem Hals.
Mit dieser Aufmachung sah er ebenso maskulin wie feminin aus und erweckte den Eindruck, beide Geschlechter wären in seinem Wesen vereint. Das galt auch für seine Gesichtszüge. Um die dichten dunklen Wimpern, die große graue Augen einrahmten, mochten ihn viele Frauen beneiden. Hingegen wirkte das kraftvolle Kinn eindeutig männlich.
Als er zu Lady Melbourne ging, bemerkte Kassandra, dass er sein rechtes Bein nachzog, und sie überlegte, ob er sich vor kurzem verletzt hatte. Aber dann entdeckte sie die dicke Schuhsohle, die offenbar eine Verformung des Fußes ausgleichen sollte.
Wie eigenartig – ein Mann, der seine anmutige Erscheinung so wichtig nahm, musste eine so auffallende Missbildung ertragen. Also steckte der »geniale Geist« voller Widersprüche.
»Lady Melbourne …« Schwungvoll beugte er sich über die Hand der Gastgeberin, während sein Blick bereits Kassandra suchte. »Es war so gütig von Ihnen, mich einzuladen.«
»Unsinn, mein lieber Junge«, erwiderte die Spinne mit einer Herzenswärme, die sie ihrer Nichte vorenthalten hatte. »Ich freue mich doch immer, Sie zu sehen. Hoffentlich befolgen Sie meinen Rat und achten inzwischen besser auf sich. Haben Sie heute schon etwas gegessen? Mit dieser grässlichen Diät schaden Sie Ihrer Gesundheit.«
»So sehr ich mich auch bemühe – es ist schwierig. All die Forderungen, die man an mich stellt …« Höflich lächelte er Annabella zu, schaute aber nicht in ihre, sondern in Kassandras Augen. Mit einer matten Geste in Lady Melbournes Richtung bat er: »Wenn Sie so freundlich wären …«
»Ja, selbstverständlich. Hoheit, darf ich Ihnen George Gordon, Lord Byron vorstellen? Zweifellos habt Ihr schon viel von ihm gehört.«
Kühle, glatte Finger umschlossen Kassandras Hand. Obwohl er sich nicht erlaubte, ihre Haut mit seinen Lippen zu berühren, spürte sie seinen Atem – warm, sogar heiß. Im Inneren des Poeten schien eine Flamme zu lodern. So intensiv, dass sie ihn zu verbrennen drohte?
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Lord Byron.«
Einige Sekunden lang antwortete er nicht und starrte sie nur an. Als er zu sprechen begann, stotterte er ein wenig, gewann aber nach den ersten Worten seine Fassung wieder. Trotzdem genügte ihr die kleine Unsicherheit, um ihr zu verraten, dass der scheinbar weltgewandte Künstler, dem die Londoner Gesellschaft zu Füßen lag, im Grunde seines Herzens ein schüchterner junger Mann war.
»Eh – nun – ah – Prinzessin – wie großmütig Sie sind! Offen gestanden, ich begreife nicht, dass irgendjemand von meiner armseligen Person Notiz nimmt, nachdem Sie in London angekommen sind. Alles, was mit Akora
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