Insel meiner Sehnsucht Roman
Bauarbeiten begannen vor fast achthundert Jahren. Nach akoranischen Maßstäben ist das nicht allzu lange her. Aber in England zählt der Palast zu den ältesten Gemäuern.«
»Sehr imposant«, meinte Kassandra bewundernd. »Tritt hier das Parlament zusammen?«
»In dem Trakt namens Westminster Hall. Möchtest du ihn besichtigen?«
»Oh ja.«
Wenige Minuten später betraten sie die dunkel getäfelte Halle des House of Commons, wo im selben Moment ein seltsames Geräusch erklang. Ein Knall, dachte Kassandra. Was mochte das bedeuten? Plötzlich packte Royce ihren Arm, drückte sie an eine Wand und schützte sie mit seinem Körper.
»Was um Himmels willen …?«, rief sie.
Während sie über seine Schulter zu spähen versuchte, riss er eine nahe Tür auf und schob sie in einen kleinen Garderobenraum.
»Bleib hier!«, befahl er und rannte davon.
In der Halle polternden Schritte, gellende Schreie erklangen.
Und dann erkannte Kassandra den Grund der Aufregung.
»Mr. Perceval wurde erschossen!«
»Mr. Perceval ist tot!«
Perceval? Spencer Perceval, der Premierminister? Erschos sen? Das konnte sie nicht glauben.
Vorsichtig öffnete sie die Tür, nur einen Spaltbreit, und schaute hinaus. Obwohl die Halle von Menschen wimmelte, sah sie eine reglose Gestalt am Boden liegen. Aus einer Wunde in der Brust quoll Blut. Zwei Männer hoben die Leiche hoch und trugen sie in ein Büro. Sobald das geschehen war, ertönte ein neues Geschrei.
»Versperrt den Ausgang! Niemand darf das Haus verlassen!«
Krachend fiel die Tür ins Schloss, durch die Kassandra und Royce vor wenigen Minuten hereingekommen waren, und wurde verriegelt.
Eine Zeit lang herrschte Stille, dann stürmte ein Mann aus dem Büro, in das man Perceval gebracht hatte. Sichtlich schockiert blickte er sich um. Was er sagte, hörte Kassandra nicht. Doch das war auch gar nicht nötig, denn der Sinn seiner Worte wurde bald offenkundig.
»Wo ist der Mörder?«, rief jemand.
»Sucht den Mörder!«
Also war Perceval tot – der Premierminister, der so entschieden gegen alle Reformen protestiert und den sie verdächtigt hatte, eine Invasion von Akora zu planen, um eigene Interessen zu verfolgen. Tot.
Und wer hatte ihn ermordet? Kein Akoraner, das wusste Kassandra. In England hielten sich nur wenige Akoraner auf, und alle standen in den Diensten ihres Bruders Alex, der jeden Einzelnen sorgfältig ausgesucht hatte. Außerdem galt es im Inselreich als ehrlos, einen Menschen auf diese Weise zu töten. Ein Duell wäre akzeptabel gewesen. Aber jemanden niederzuschießen, der sich nicht verteidigen konnte …
Wer hatte das Verbrechen begangen?
Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich war ten. Während mehrere Leute nach dem Mörder riefen, verkündete ein schlanker, unauffällig gekleideter, dunkelhaa riger Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen, der sich kaum von den anderen unterschied: » Ich bin der Unglückliche.«
Da er immer noch eine Pistole umklammerte, sah Kassandra keinen Grund, an seinem Geständnis zu zweifeln. Offensichtlich glaubten ihm auch die Männer in seiner Nähe, denn er wurde sofort festgehalten und gründlich durchsucht. Bald fand man eine weitere Pistole in seiner Hosentasche, und ein Gentleman nahm beide Schießeisen an sich.
Nachdem man den Mörder entwaffnet hatte, umringten ihn einige Parlamentarier und fragten nach dem Tatmotiv. Da sie alle durcheinander redeten, fand der Mann keine Gelegenheit zu antworten. Das versuchte er ein paar Mal, verstummte aber immer wieder, weil das allgemeine Geschrei seine Stimme übertönte.
Schließlich kam er zu Wort. »Wegen mangelnder Widergutmachung und fehlender Gerechtigkeit«, hörte Kassandra den Mann erklären.
Damit gab man sich anscheinend zufrieden. Der Täter wurde eine Treppe hinaufgeführt. Offenbar sollte im Oberstock eine hastig anberaumte Gerichtsverhandlung stattfinden, und in der Halle bezeugte nur mehr das Blut am Boden, was geschehen war.
Verwirrt starrte Kassandra die Flecken an, bis Royce zurückkehrte und ihren Arm ergriff. »Jetzt muss ich dich nach Hause bringen.«
»Wenn ich auch nicht zur Heuchelei neige …«, bemerkte sie, als sie einem langen Korridor folgten und den Palast durch eine Hintertür verließen, »armer Perceval … Niemand verdient es, eines solchen Todes zu sterben.«
»Nur selten bekommen die Menschen, was sie verdienen. Komm, schnell!«
»Warum die Eile?«
»Weil sich ein Mob vor der Westminster Hall versammelt.«
»Um gegen Percevals
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