Insel meines Herzens
Helios, das unbequeme Fragen stellte, hätte er sie vielleicht schon geheiratet.
In ihren Schläfen dröhnte es schmerzhaft. Den Kopf in die Hände gestützt, schloss sie die Augen, fand aber keine Linderung. Nachdem sie aus den Höhlen getaumelt war, hatte sie geradewegs ihr Zimmer aufgesucht, um zu baden und saubere Kleidung anzuziehen. Daran erinnerte sie sich kaum. Jetzt saß sie auf der obersten Stufe der steinernen Reihen, die das leere Stadion umgaben. Vor einem halben Jahr hatte sie, fast vom selben Platz aus, aufgeregt und begeistert die olympischen Spiele beobachtet, das faszinierende Wagenrennen.
Atreus war einem überlegenen Sieg entgegengerast. Mit klopfendem Herzen sprang sie auf und jubelte ihm zu.
Wenige Sekunden später zerriss eine gewaltige Explosion, die eine Mauer direkt neben dem Vanax einstürzen ließ, die Arena – und scheinbar die ganze Welt.
Dafür sei der Verräter Deilos verantwortlich, hatte man behauptet. Weil er die Reformen ablehnte, die der Vanax plante, und den Thron selbst besteigen wollte...
Und manche Leute glaubten, Helios-Anhänger hätten ihm geholfen, den Mordanschlag auf Atreus zu verüben.
Noch mehr Lügen? Das wusste sie nicht, und es fiel ihr schwer, klar zu denken. Zu grell schien die Sonne, und der Wind frischte auf.
Verdammter Wind... Von Kindesbeinen an, seit ihr jene seltsame Gabe vage bewusst geworden war, hatte sie ihn gefürchtet. Jetzt erschien er ihr nur mehr wie ein sinnloses Ärgernis. Wie Atreus betont hatte, würden die Frauen in seiner Familie und in der Hawkforte-Dynastie immer wieder andere Fähigkeiten besitzen. Zum Beispiel beschworen sie Naturgewalten herauf. Oder sie schauten in die Zukunft. Doch das alles diente einem Zweck und bewirkte etwas, das über ein Ärgernis hinausging.
Für sie galt das nicht – oh nein. Falls ihr ein gewisses Talent gegeben war, brachte es irgendeinen Nutzen? Und wenn sie einen Mann liebte, musste er...?
Erbost bezwang sie ihr Selbstmitleid, sprang auf und verließ die Arena. Ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, wanderte sie durch die Stadt. Bald gesellte sie sich zu dem Menschenstrom, der ernsthaft und zielstrebig den Palast ansteuerte. Was mochte das bedeuten? Allzu lange musste sie nicht auf eine Erklärung warten.
»Bri, ich hätte nicht gedacht, dich hier zu treffen!«, rief Polonus und bahnte sich durch das dichte Gedränge einen Weg zu ihr.
Mühsam unterdrückte sie ein Seufzen und suchte ihre Verzweiflung zu verbergen. Selbst wenn sie jenes beunruhigende Gespräch auf dem Fest nicht geführt hätten, könnte sie sich ihrem Bruder unmöglich anvertrauen. So eng die Bande zwischen ihnen auch gewesen waren – er zählte zu den Menschen, die sie bewogen hatten, einer Lüge zu glauben.
Aber obwohl sie nichts sagte, kannte er sie gut genug und merkte sofort, dass sie irgendetwas bedrückte. »Was stimmt denn nicht mit dir?«, fragte er. Für einen kurzen Moment schien er seinen Egoismus zu vergessen und seine Schwester in echter Besorgnis zu mustern.
Davon ließ sie sich nicht beeindrucken, und sie wünschte, sie wäre mit ihren Gedanken allein. »Alles in Ordnung.«
»Du bist so blass.«
Ohne ihn anzuschauen, ging sie weiter. »Ich bin eben erst aus England zurückgekehrt. Dort scheint die Sonne um diese Jahreszeit nur selten.«
»Trotzdem hast du vorgestern besser ausgesehen. Hör mal – tut mir Leid, wenn ich irgendwas gesagt habe, das dich bekümmert.«
»Du hast dich nicht so verhalten wie der Polonus, den ich zu kennen glaubte. Deswegen war ich irritiert. Was du gesagt hast, war blanker Unsinn.«
Mit dieser Anklage trieb sie ihm das Blut in die Wangen. Aber er protestierte nicht. Stattdessen versuchte er, sich zu entschuldigen. »Die letzten Monate waren sehr schwierig für mich. Jetzt fängt wenigstens der Prozess an...«
»Der Prozess? Heute?«
Verwirrt runzelte er die Stirn. »Ja, natürlich. Deshalb gehen sie alle zum Palast hinauf. Du etwa nicht?«
»Doch.« Die Helios-Anhänger, die sich vor Gericht verantworten mussten, waren nicht nur seine Freunde, sondern auch ihre. Unter anderem hatte Atreus dieses bevorstehende Verfahren benutzt, um sie nach Akora zurückzulocken. Vielleicht nahm er an, sie würde dem Prozess fernbleiben. Nun, dann würde sie ihm eine Überraschung bereiten.
Hoch erhobenen Hauptes würde sie die Ereignisse beobachten und feststellen, ob es auf Akora tatsächlich so etwas wie Gerechtigkeit gab.
Von der Menschenmenge getrieben, erreichten Brianna und
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