Insel meines Herzens
ging sie nicht ein. Stattdessen schien sie laut zu denken. »Über eine solche Schlacht müssten die Akoraner Bescheid wissen. Auch Leoni und Marcus. Alle wussten Bescheid. Und niemand – niemand – erzählte mir davon.«
»Neulich sagtest du, Leoni und Marcus würden nichts von deinen Schuldgefühlen ahnen.«
»Trotzdem – sie verschwiegen mir die Wahrheit über den Tod meiner Eltern und wie es dazu kam, dass ich bei ihnen aufwuchs.«
»Wäre es sinnvoll gewesen, dir das alles zu sagen – wo du doch dein Leben hier verbringen würdest? Insbesondere, nachdem du in England nicht vermisst wurdest. Zumindest nahmen wir das an.«
»Aber ich habe eine englische Familie. Nicht einmal das hätte ich herausgefunden, wäre ich nicht so fest entschlossen gewesen.« Sie wich vor ihm zurück und streckte die Arme aus, um ihn abzuwehren. »Zu viele Lügen.«
»Keine Lügen.«
»Oh, doch! Lügen des Schweigens. Dies alles hätte man mir mitteilen müssen. So viele Jahre lang liebte ich Akora. Und wie ich jetzt höre, starben meine Eltern, weil... Mein Vater versank im Wasser, suchte verzweifelt nach meiner Mutter und fand sie nicht – dann entdeckte er mich und... Oh Himmel, wie er mich ansah, bevor die Wellen ihn verschlangen...« Der Albtraum jenes grausigen Tages stieg erneut in ihr auf, begleitet von einer beklemmenden, unausweichlichen Wahrheit. »Von Anfang an hättest du ehrlich zu mir sein müssen, Atreus. Und stattdessen...« Sie senkte den Kopf, ließ ihren Blick über die beiden nackten Körper wandern – einander so vertraut nach den langen Stunden voller Leidenschaft. »Stattdessen wolltest du mich an dich binden, um zu erfüllen, was du für unser Schicksal hältst, weil nichts anderes zählt, nicht wahr? Nichts außer den Forderungen Akoras.« Schmerzlich verzerrten sich ihre Lippen. »Oh ja, du bist der Erwählte. Daran zweifle ich nicht mehr. Aber vielleicht solltest du dich fragen, ob du immer noch ein Mensch bist.«
Dann ergriff sie die Flucht, und Atreus war allein im Tempel so wie vor acht Jahren. Aber diesmal hatte er die Prüfung nicht bestanden, sondern schmählich versagt.
Kapitel 15
A us einem Traum erwacht, geriet sie in einen Albtraum. Atreus war tatsächlich der Erwählte, die Legenden und Mythen der akoranischen Religion entsprachen der Wirklichkeit. Auf den Inseln herrschte eine spirituelle Macht, die über alle Bewohner wachte. Im Tempel hatte auch Brianna diese Kraft gespürt, durch den Vanax. Wäre die erstaunliche Offenbarung nicht von einer grauenhaften Erkenntnis überschattet worden, hätte sie ihr ein reines Glück geschenkt.
Aber jener übergroßen Macht waren ihre Eltern zum Opfer gefallen.
Obwohl sie instinktiv davor zurückschreckte, einen so furchtbaren Schluss zu ziehen – es ließ sich nicht vermeiden. Der Leben spendende Geist von Akora, was immer er sein mochte, befähigte und erkühnte die Einheimischen, ihr befestigtes Königreich gegen alle Eindringlinge zu verteidigen.
Briannas Augen brannten, und sie hielt ihr Gesicht in den Wind. Vielleicht würde er die Tränen trocknen, die unentwegt flossen, die sie nicht bekämpfen konnte.
Zum ersten Mal, seit sie vor sechzehn Jahren erwacht war und Leoni an ihrem Bett gesehen hatte, fühlte sie sich einsam, hoffnungslos verloren. Akora, ihre geliebte Heimat, hatte Delphine und Edward ins Verderben gelockt. Und von den Menschen, die sie so vertrauensvoll geliebt hatte, war sie in all den Jahren belogen worden. Die Wahrheit über den Tod ihrer Eltern hatten Leoni und Marcus beharrlich verschwiegen. Solche Schicksalsschläge erschienen ihr unerträglich. Trotzdem musste sie den Schmerz hinnehmen, weil es keinen Ausweg gab.
Natürlich konnte sie Akora verlassen, nicht sofort oder problemlos. Aber sie würde abreisen. In England wartete ein neues Leben. Das wusste sie, aber der Gedanke tröstete sie nicht. Wohin immer sie ging, Leid und Trauer würden ihr folgen.
Sich selbst konnte sie hier nicht zurücklassen. Und der wichtigste Teil ihres Ichs war die Erkenntnis einer übermächtigen Liebe zu Atreus. Aber gerade wegen dieser Liebe konnte sie unmöglich in einer Welt voller Lügen bleiben. Er wollte nicht die Frau heiraten, die sie war, sondern die Frau, die das Schicksal für ihn bestimmte. Zumindest glaubte er das, von einer Vision beeinflusst. Mit Leidenschaft und Überzeugungskraft hatte er sie erobert. Viel zu empfänglich war sie gewesen, viel zu bereitwillig hatte sie sich hingegeben. Wäre sie kein Mitglied von
Weitere Kostenlose Bücher