Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
sechsundzwanzig. Kein junger Spund mehr, doch auch alles andere als ein Greis mit grauen Schläfen. Ein beträchtlicher Altersunterschied ist keine so schlechte Sache, wenn die Beteiligten … Aber hier mache ich den zweiten Schritt vor dem ersten. Samuel hat mir sein Interesse bekundet, deine Bekanntschaft zu machen, als du damals zu mir kamst. Doch als ich dies deinem Bruder gegenüber erwähnte, versetzte er mich in den Glauben, du seist diesem Jungen von der Insel, Merry, zärtlich zugetan. Er stellte es so dar, als sei bereits alles zwischen euch abgesprochen. Und das habe ich auch Samuel gesagt. Doch nun, wo du sagst, die Sache mit Merry verhalte sich keineswegs so, wie dein Bruder sie darstellt … und mein Sohn noch immer … Langer Rede kurzer Sinn, heute habe ich ihm gesagt, ich würde mit dir sprechen. Er war beeindruckt von deiner Beredsamkeit während der Versammlung … in jener unglückseligen Angelegenheit …«
Wie seltsam. Ausgerechnet in dem Moment, als man mich dazu genötigt hatte, mich vor der ganzen Gemeinde selbst zu erniedrigen, hatte ich offenbar jemandes Wertschätzung für meine Person geweckt. Als ich damals aufgestanden war, um mein Geständnis abzulegen, war mir durch den Kopf gegangen, wie bezeichnend es doch war, dass sich eine Frau ausgerechnet dann selbst bezichtigen musste, wenn sie die seltene Gelegenheit erhielt, in unserer Gemeinde das Wort ergreifen zu dürfen.
»Er ist ein ernsthafter Mensch und ein ausgezeichneter Gelehrter, der bei unserem Präsidenten Chauncy sehr hohes Ansehen genießt. Und als er erfuhr, dass du Latein kannst … Natürlich werde ich ihm sagen, er solle sich selber ins Zeug legen, aber ich denke, du wirst ihn durchaus …«
Während der Master sprach, gewann das Bild von Samuel Corlett in meinem Kopf allmählich immer klarere Konturen. Ich dachte mir, dass er wohl eher nach seiner verstorbenen Mutter kommen musste, denn seinem Vater sah er überhaupt nicht ähnlich. Erstens war er sehr dunkelhäutig, ganz anders als der sommersprossige, blonde Master Corlett, und zweitens gut anderthalb Kopf größer als er. Er war nicht auffallend gutaussehend, sondern wirkte eher durchschnittlich – seine Nase war gebrochen, wahrscheinlich bei irgendeinem Missgeschick in der Kindheit, und danach nicht von kundiger Hand gerichtet worden. Das verlieh seinem Gesicht auf den ersten Blick etwas Grobes und ließ nicht unbedingt an das Aussehen eines geistreichen Gelehrten denken. Doch seine Augen straften diesen ersten Eindruck Lügen. Sie lagen tief in den Höhlen und waren ziemlich dunkel, fast schwarz, aufmerksam und intelligent. Erst jetzt fiel mir ein, wie oft ich in der Gemeindeversammlung oder wenn ich auf der Gemeindewiese an ihm vorbeiging, aufgeblickt und bemerkt hatte, dass diese Augen auf mir ruhten. Was konnte es denn schaden, wenn ich damit einverstanden war, mich mit ihm zu treffen? Kurz überlegte ich noch.
Der Master war mit seiner Ansprache längst fertig. Die Stille wurde länger und länger.
»Verzeiht mir, Herr, für mein Missverständnis von vorhin«, sagte ich schließlich. Er gab ein trockenes, kleines Lachen von sich, öffnete die gefalteten Hände, die vor ihm auf dem Schreibtisch ruhten, und hob fragend die Augenbrauen.
Ich senkte den Blick und nestelte an meiner Manschette. »Nun, ich hätte … das heißt, eigentlich hätte ich nichts dagegen …« Auf einmal war ich diejenige, die unbeholfen stammelte. Ich holte tief Luft.
»Was ich sagen will, ist, dass es mich freuen würde, Euren Sohn Samuel Corlett zu empfangen.«
XV
Am Ende sollte es Samuel Corlett sein, der mich empfing. Obwohl wir nie darüber sprachen, waren der Master und ich zu dem gleichen Schluss gekommen, Makepeace nicht in unsere Pläne einzuweihen, da es mehr als wahrscheinlich war, dass eine solche Unterredung zu nichts führen würde, und so hatten wir beschlossen, uns über seinen Willen hinwegzusetzen. Aus diesem Grund war es auch besser, Samuel Corlett in seinen Räumen am College aufzusuchen, wo man weder gesehen noch belauscht werden konnte.
Mein Bruder hatte bekannt gegeben, dass er die Schule verlassen wolle und wartete nur noch auf Nachricht von dem Seemann, auf dessen Schaluppe er die letzten Male hatte mitreisen können, wenn eine Warenladung zur Insel unterwegs war. Am Unterricht nahm er nicht mehr teil. Das machte es für mich auch einfacher, jeglichen Kontakt zu ihm zu vermeiden, der über das absolut Notwenige hinausging. Als der Tag des Herrn kam, ging
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