Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
hatte sich auf die Schüssel übertragen, die ich in Händen hielt, und holte mich in die Gegenwart zurück, wo es dringende Aufgaben zu lösen galt.
»Ich muss ihr das hier jetzt bringen. Wenn sie nicht bald etwas zu sich nimmt, wird sie unsere Hilfe nicht mehr brauchen, weil sie nicht mehr am Leben ist. Lasst mich nachdenken. Heute Nacht können wir sowieso nichts mehr tun. Gleich morgen früh wollen wir weiter darüber sprechen.«
XVIII
Doch auch am folgenden Morgen befand sich die Schule in hellem Aufruhr, wie ein aufgescheuchter Ameisenhügel. Allerorten lagen die Nerven blank. Auch war es nicht gerade sehr dienlich gewesen, dass Anne mitten in der Nacht nach einem Alptraum laut aufgeschrien und das ganze Haus damit geweckt hatte. Master Corlett gelang es nur mit allergrößter Mühe, die Jungen an ihren Pulten zu halten, und es war gar nicht daran zu denken, sie zum Lernen zu bringen. Alle waren rauflustig und unaufmerksam, als ein lautes Klopfen an der Tür sie endgültig aufstörte. Mir pochte heftig das Herz, weil ich dachte, es könne ein Gerichtsbeamter sein, der Anne holen wollte. Stattdessen trat ausgerechnet die Person in all das Chaos, das bei uns herrschte, mit der ich in diesem Moment am wenigsten gerechnet hätte.
Ich war zu der Zeit gerade bei Anne. Ich hatte bei ihr im Zimmer geschlafen − oder es zumindest versucht –, während der Master sich mit meinem Strohlager in der Küche begnügt hatte. Corlett schickte einen der Schüler an die Tür, um zu öffnen.
Als ich die vertraute Stimme vernahm, konnte ich es kaum glauben und trat sogleich in den Flur hinaus. Es war Noah Merry. Die wilden Locken zu einem artigen Zopf nach hinten gebunden, im nüchternen Stadtgewand statt der Kleidung, die er sonst im Stall trug, und gut einen Kopf größer, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, fragte er nach dem Master. Als sich unsere Blicke begegneten, erröteten wir beide. Er verbeugte sich leicht, doch fiel kein Wort, da in diesem Moment der Master aus dem Klassenzimmer kam, woraufhin sich die beiden in die Küche zurückzogen, um eine längere Unterredung zu führen – die, wie mir schien, eine halbe Ewigkeit dauerte. Als sie wieder herauskamen, rief der Master nach mir und teilte mir mit, er würde mir, nachdem ich den Jungen ihr Frühstück bereitet hätte, eine Stunde freigeben, damit ich einen Spaziergang mit Noah Merry unternehmen könne.
Zuerst war mir nicht wohl bei der Sache, doch während ich den Jungen ihr Essen hinstellte, hatte ich einen Moment zum Nachdenken. Gewiss war es doch besser, ihm unter vier Augen die Gründe für meine Ablehnung seines Antrages zu nennen und sie nicht einem nüchternen Stück Pergament anzuvertrauen, das Makepeace vermutlich zusammen mit allen möglichen Verunglimpfungen meines Charakters auf die Insel bringen würde.
Wir gingen hinaus, Seite an Seite, an den dicht gedrängten Häusern auf ihren schmalen Grundstücken vorbei. Heimlich sah ich Merry von der Seite an, wann immer ich konnte. Dass er gewachsen war, stand ihm gut, und obwohl sein Äußeres immer noch jungenhaft weich wirkte, zeigte sich an einer gewissen Kantigkeit rund um die Wange und das Kinn, dass aus ihm bald ein ansehnlicher Mann würde. Er schien aufgewühlt, als wir unseren Weg am Versammlungshaus vorbei wählten und uns dann nach Norden wandten, den schmalen Pfad entlang, der den Windungen des kleinen Dorfbaches folgte. Ich brannte darauf zu erfahren, ob der Master ihm mitgeteilt hatte, wie die Dinge zwischen mir und seinem Sohn standen. Natürlich war bei all der Aufregung der vergangenen Stunden nicht mehr die Rede davon gewesen, und Samuel Corletts Antrag hing immer noch unbeantwortet in der Schwebe.
Eine ganze Weile erzählte Noah mir allerlei Neuigkeiten, so wie es jeder von der Insel getan hätte, und normalerweise wäre ich auch begierig darauf gewesen, sie zu hören, betrafen sie doch Menschen, die mir nahestanden. Offenbar hatten sich die Bestrebungen, Großvaters Führungsrolle zu untergraben, verstärkt. Federführend waren immer noch die Aldens und ihre Gefolgsleute, die sowohl in der Leitung der Plantagen als auch der Gesetzgebung ein Mitspracherecht forderten. Sie suchten ständig nach einem Vorwand, Unruhe in der Siedlung zu stiften, wobei die Ausschlachtung von gestrandeten Walen einer der Streitpunkte und Unregelmäßigkeiten bei Landverkäufen ein anderer waren. Auch die Tatsache, dass Großvater als Friedensrichter durchaus auch die Partei der Indianer ergriff,
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