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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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hereingebracht hatte, und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, weil ich davon ausging, dass man mich gar nicht weiter bemerken würde. Obwohl ich meinen Dienst erst vor zwei Tagen angetreten hatte, wusste ich bereits, dass man hier leicht übersehen wurde. Die Studenten und Tutoren lebten in ihrer eigenen Welt, von anderen Menschen deutlich unterschieden durch ihre schwarzen Talare, ihre lateinischen Gespräche und ihre entrückten Gedanken. Samuel hatte mir erzählt, in den frühen Zeiten der Siedlung habe es viel Gerede gegeben, weil man die Kosten für die Errichtung des Gebäudes als zu hoch erachtete. In jenen finanziell knappen Zeiten wäre es leichter und billiger gewesen, die Studenten in der Stadt Quartier nehmen und sie nur zu ihren Seminaren zusammenkommen zu lassen, so wie es auch die Universitäten in Europa im Allgemeinen handhabten. Doch die Engländer, die damals dieses College ins Leben rufen wollten, hatten in Cambridge in England ihren Doktor gemacht und wünschten sich eine Alma Mater, wie sie selbst eine gehabt hatten: ein eingezäuntes Refugium, wo Studenten und Lehrpersonal zusammenlebten, in luftiger Entfernung zur Stadt mit ihren üblen Ablenkungen und ihrer lockeren Lebensart. Die Studenten sollten das Gelände des College gar nicht erst verlassen, es sei denn mit ausdrücklicher Genehmigung ihrer Tutoren. Auf diese Weise, so nahm man an, würden sie, selbst während sie aßen und schliefen, ja während jedes Atemzuges bei ihren Studien sein, und nichts würde ihnen begegnen, was nicht dem Zwecke des Lernens diente.
    Die Aufgabe, sich mit der Welt zu befassen und dafür zu sorgen, dass die Studenten zu essen und zu trinken hatten, dass sie Schuhe und Kleidung bekamen, fiel dem Haushofmeister und dessen Untergebenen, so wie mir, zu. Es gab fünf Menschen, die hier angestellt waren: den Küchenmeister Goodman Whitby und seine Frau Maude, die kochte, ihren jungen Sohn George, der die Quartiere der Studenten putzte, eine Wäscherin, die einmal in der Woche kam, sowie meine Wenigkeit, das Küchenmädchen. So unbemerkt wie Ameisen gingen wir tagtäglich unserer Arbeit hier nach.
    Präsident Chauncy nahm einen Schluck von dem Leichtbier, das ich ihm hingestellt hatte, und tupfte sich die Lippen mit einem zerknitterten Taschentuch ab, wobei er unverwandt auf Caleb schaute. Caleb erwiderte seinen Blick, sehr aufrecht in seinem Stuhl sitzend. Er war in der schlichten, nüchternen Art gekleidet, die einem Studenten geziemt. Seinen Kragen hatte ich eigenhändig genäht, wobei ich mir besonders viel Mühe gegeben hatte. Ich hatte ihn mit einer schmalen Schmuckkante aus Lochstickerei versehen, ihn gestärkt und aufs Sorgfältigste gebügelt. Das reine Weiß hob sich schön von Calebs tiefschwarz glänzendem, kurz geschorenem Haar ab. In dem einen Jahr seit unserer Überfahrt war eine deutliche Veränderung in ihm vorgegangen. Er war immer schon hager gewesen, doch auf die muskulöse Art eines Mannes, der sich viel an der frischen Luft bewegt. Mittlerweile jedoch wirkte mein indianischer Freund dürr, regelrecht abgemagert durch eine mangelhafte Ernährung und ein Leben am Schreibtisch. Irgendwie schien er seinen großgewachsenen Körper nicht mehr so recht auszufüllen, und die Haut, die ein wenig blasser geworden war, als es für ihn natürlich schien, hatte ihren früheren Glanz verloren.
    Doch er hatte auch etwas gewonnen. Ich betrachtete ihn, wie er da saß, und versuchte herauszufinden, was es war. Mehr denn je schien Caleb von einer starken Disziplin, einer strengen Selbstkontrolle geprägt. Hingegen wirkte seine körperliche Kraft etwas gedämpft, vielleicht weil er sie gänzlich in den Dienst seines Willens und seiner Zielstrebigkeit gestellt hatte, die in ihm brannten wie eine leuchtende, helle Flamme. Caleb wollte unbedingt Erfolg haben hier, an diesem kalten und fremden Ort, ganz gleich, was es ihn kostete. Seine dunklen, goldbraunen Augen begegneten dem Blick des Präsidenten ohne Scheu.
    »Dein Alter?«
    »Ich zähle sechzehn Lenze.«
    Chauncy legte eine Hand an seine Stirn, als hätte ein plötzlicher Schmerz ihn getroffen wie ein Dolch. Er schüttelte sein silbergraues Haupt und zog die Stirn in Falten. »Nein, nein, nein. Du hättest schon längst Abstand von derlei barbarischen Ausdrücken nehmen sollen. Du bist sechzehn Jahre alt. So sagt man das.« Er wandte sich seinem Schreiber zu und murmelte kaum hörbar: »Der primitiven Sprache nach ist er immer noch ein Wilder, dabei wollte

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