Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
mir Corlett weismachen, er sei für das hohe Studium der Klassiker geeignet …« Er gab einen tiefen Seufzer von sich, der zu einem Gähnen wurde, wobei er sich gar nicht die Mühe machte, das zu verbergen. Er blätterte in den Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch lagen, und zog schließlich ein Blatt hervor, das er nur kurz anschaute und dann Caleb reichte.
»Hier ist eine Seite mit englischen Sätzen. Übersetze sie mir ins Lateinische … suo ut aiunt marte.«
Caleb schob sein Wörterbuch auf dem Tisch zur Seite, wie ihn der Präsident angewiesen hatte. Chauncy hob eine Augenbraue, als überraschte es ihn, dass Caleb selbst diesen kleinen lateinischen Nachsatz verstanden hatte. Ich sah, wie Calebs Miene sich aufhellte, als er die Seite überflog, die Chauncy ihm gegeben hatte. Dann beugte er den Kopf, und seine Hand flog zügig über das Pergament. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um zu erkennen, wie er schrieb. Er hatte mittlerweile eine schöne Handschrift, elegant und selbst für jemanden wie mich, die ich bei den meisten Männerhandschriften zu kämpfen hatte, lesbar. Schon kurz darauf sah ich den Grund für sein Lächeln, denn die Passagen stammten aus einem Text, den er sehr gut kannte: Caesars Überschreitung des Rheins. Es war eine Passage, die er mit Vater gründlich studiert hatte, und zwar vor langer Zeit.
Caleb reichte dem Präsidenten die vollgeschriebene Seite. Chauncy schürzte die Lippen und schob das Blatt seinem Schreiber zu. »Er hat eine gute Schrift – das muss man ihm lassen.« Dann hielt er sich das Examenspapier dicht vor die Augen und begann sich die Zeilen durchzulesen. Seine Mundwinkel fielen ein wenig herab, während er mit den Augen die Seite überflog. »Ich sehe nur einen Fehler – hier.« Er zeigte mit dem Finger auf ein falsch konjugiertes Verb und kritzelte eine Korrektur. »Sehr überraschend. Sehr unerwartet … Mein Kollege Corlett hatte es bereits angedeutet, aber ich hielt es für Wunschdenken und eine Täuschung.« Der Schreiber nickte zustimmend. Chauncy sah Caleb forschend an. »Sei so gut und nenne mir die Endungen des Futurs in den verschiedenen Konjugationen.«
Caleb antwortete ohne Zögern. Daraufhin unterzog ihn Chauncy einer Befragung auf Latein, die für mich größtenteils zu schnell vonstatten ging, da ich mittlerweile ziemlich ungeübt war. Einmal musste Chauncy eine Frage wiederholen, und gelegentlich hob er eine Hand, um Caleb zu unterbrechen und einen Fehler zu korrigieren, doch dann führte er die Befragung fort. Das Gespräch war noch im Gange, als sich Chauncy in seinem Stuhl vorbeugte und den Schwierigkeitsgrad seiner Fragen erhöhte.
»Also«, sagte Chauncy und kehrte endlich wieder zum Englischen zurück. »Mir scheint, dein Latein steht auf festem Boden. Du bist auch auf bestem Wege zu einer korrekten Aussprache. Hier an diesem College gehen wir allerdings weiter. Eine der sieben Künste, die wir hier lehren, ist die Kunst der Rede. Ich vermute, du weißt, wie der Name dieser Kunst lautet?«
»Rhetorik«, antwortete Caleb.
»Dann hast du also davon gehört …«
»Ich habe davon gehört und sie auch persönlich erlebt, lange bevor ich wusste, dass es einen Namen dafür gibt. Dort, wo ich aufgewachsen bin, wurde derjenige Mann, der eine gut durchdachte und überzeugende Rede halten konnte, mit einem Preis ausgezeichnet.«
Chauncy lächelte herablassend. »Ach, wirklich? Ich denke, du wirst im Laufe deines Studiums hier feststellen, dass selbst die größten Anstrengungen von ungebildeten Wilden kaum vergleichbar sind mit … Nun ja. Von einem nur notdürftig bekleideten Krieger kann man wohl kaum behaupten, er habe sich die Rhetorik angeeignet.«
Caleb erwiderte das Lächeln des Präsidenten. »Dennoch heißt es, auch Homer sei ungebildet gewesen – und hat er nicht von Achilles geschrieben, einem notdürftig gebildeten Heiden, der ebenso ›rüstig in Taten‹ wie ›beredt in Worten‹ war?«
Chauncy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte Caleb an. Dann nickte er anerkennend. »Gut gesagt. Wirklich. Und da ich nun weiß, dass du Homer gelesen hast, lass uns zu deinen Griechischkenntnissen kommen.«
Ich erstarrte. Samuel hatte mir erzählt, das Altgriechische sei Chauncys große Leidenschaft. Er hatte am Trinity College in Cambridge Vorlesungen gehalten und zum Beispiel an dem Disput teilgenommen, ob die Kirche irre, wenn sie für das heilige Abendmahl eine Kommunionbank errichtete. Für kurze Zeit war er wegen seiner
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