Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
uns diesen Ort hier verlassen«, sagte ich zu Noah. »Mir ist kalt bis auf die Knochen.« Es war gar kein besonders kalter Abend, doch das Blut in meinen Adern war zu Eis erstarrt, und ich sehnte mich danach, wieder an einem vertrauten Ort zu sein, einem Ort, wo es keine Gespenster und Geister gab, die mich umlauerten.
IX
Als ich Calebs Zimmer im Haus von Thomas Danforth betrat, befürchtete ich, zu spät gekommen zu sein. Er lag mit dem Gesicht zur Wand, und die Decke über ihm schien sich kaum zu heben und zu senken, so flach war sein Atem geworden. Ich beugte mich über ihn, flüsterte ihm etwas zu. Ich sprach Wampanaontoaonk, und es war nur für Calebs Ohren bestimmt. Doch kaum hatte ich die ersten Worte gesprochen, drehte er sich um, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen. Als ich geendet hatte, legte er eine Hand – sie war ganz leicht und fiebrig – auf meinen Arm.
»Wer?«, krächzte er.
Ich nannte ihm den Namen.
Seine Gesichtszüge glätteten sich, als wären all die Linien des Schmerzes wie wegradiert. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren sie wie dunkle Kohlen, die in den Höhlen glühten, mitten in einem Schädel, von dem alles Fleisch dahingeschwunden war. Er bedeutete mir, ich solle ihm aufhelfen, und so ging ich zur Tür und rief nach Thomas Danforth, der bereits wartete, obwohl ich, als ich eine Hand an Calebs Rücken legte, wusste, dass ich es auch allein geschafft hätte. Caleb war dünn wie ein Vögelchen. Danforth machte sich verlegen an den Kissen und Polstern zu schaffen, bis ich ihm einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Er verstand, was ich sagen wollte, und zog sich zurück, ließ mich wieder mit Caleb allein. Im Kamin brannte ein schönes Feuer; Danforth hatte darauf bestanden, es immer brennen zu lassen, sobald es draußen etwas kühler war. Ich ging zur Feuerstelle hinüber und hielt die gebündelten Kräuter über die Flamme, bis sie sich entzündeten. Der Duft, rein und scharf, schien die Luft der Insel in das Zimmer zu wehen. Caleb ließ mich nicht aus den Augen, während ich das Kräuterbündel in hohem Bogen durch die Luft schwenkte. Auf einmal schien ihm das Atmen leichter zu fallen. Als ich wieder an seinem Bett stand, zog ich den Gürtel aus Wampum-Perlen hervor. Die ganze Geschichte des Stammes auf Nobnocket war darauf abgebildet, ein Muster, das jedoch nur Eingeweihte zu deuten vermochten.
Ich legte den Gürtel quer über Calebs Herz, so wie ein sonquem ihn getragen hätte. Seine Hand schloss sich über den glatt polierten Muscheln. Langsam ließ er seine Finger die violetten und weißen Reihen erkunden. Seine Lippen bewegten sich, und ich wusste, dass er Teile der Geschichte wiedergab, so wie er sie viele Jahre zuvor gehört hatte. Als seine Lippen und seine Hände langsam zum Stillstand kamen, wusste ich, dass es an der Zeit war. Ich kniete neben seinem Bett nieder. Seit Caleb krank geworden war, war sein Haar wieder lang gewachsen. Ich nahm eine der Strähnen in die Hand und strich sie ihm aus dem Gesicht. Er hob die Hand und berührte meine Fingerspitzen mit den seinen. Ich hielt die Lippen ganz nah an sein Ohr und flüsterte ihm die letzten Worte zu, die mir Tequamuck mitgegeben hatte.
Caleb hob das Kinn und holte mit letzter Kraft noch einmal Luft. Dann öffnete er weit den Mund und begann zu singen. Obwohl der Ton, den er erzeugte, zunächst noch verhalten und angestrengt war, gewann seine Stimme immer mehr an Kraft, und ich spürte sein Lied in meinem ganzen Körper, meiner ganzen Seele. Caleb sang seinen Totengesang, und dann starb er wie ein Held, der nach Hause kommt.
Caleb war ein Held, daran besteht kein Zweifel. Mit dem Mut eines Forschers war er aufgebrochen, hatte den Weg aus einer Welt in die andere gewagt, bewaffnet mit der Hoffnung, seinem Volk dienen zu können. Er hatte Schulter an Schulter mit den gebildetsten Männern seiner Zeit gestanden, bereit, als Staatsmann seinen Platz in ihren Reihen einzunehmen. Er hatte den Respekt selbst all derer gewonnen, die ihn verachtet hatten.
All das ist die Wahrheit. Doch was ich nicht weiß, ist, welches Heim ihn am Ende bei sich aufnahm. Welches auch immer es war – der englische Himmel mit all seinen großen und kleinen Engeln, oder Kietans warmes, fruchtbares Plätzchen weit weg im Südwesten: Ich glaube fest daran, dass sein letztes Lied laut genug war, dass Joel es hören und ihm dorthin folgen konnte.
X
Am Ende rissen sie das Indian College ab. Es war, könnte man sagen, ein
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