Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Speisekammer ergattert hatte, was ich denn da draußen in der weiten Welt in all den Stunden, die ich fort gewesen war, gesehen und erlebt hatte.
Oft erzählte ich ihr etwas, etwa, dass ich in einem Tümpel, den ich noch nicht gekannt hatte, einen Otter gesehen hatte, oder dass ich am Strand auf eine neue Art Seehund gestoßen war, der sich im Sand aalte. Dann nickte sie und lächelte, machte eine Bemerkung, dass frische Luft gesund sei und sie sich freue, dass ich so viel davon genießen könne, während sie als junges Mädchen in der Stadt gelebt und nicht die Möglichkeit zu derlei Streifzügen gehabt hatte.
Einmal streckte sie eine mehlbestäubte Hand aus, berührte mich im Gesicht und schob eine widerspenstige Haarsträhne unter meine Haube zurück. Ihre blauen Augen – die viel blauer waren als meine – betrachteten mich ernst. »Es ist eine gute Sache – für ein Mädchen«, meinte sie. »Aber nicht mehr lange, wenn du eine Frau wirst.« Mit diesen Worten fuhr sie im Kneten fort, ich stellte einen Topf aufs Feuer, um den mitgebrachten Hummer zu kochen, und wir sprachen nicht mehr darüber.
Damals schien sie mir nicht dringend, diese Wahrheit, die meine Mutter da geäußert hatte: dass ich nämlich eines Tages tatsächlich jenes andere Ich für immer würde zurücklassen müssen. Dass es nicht ewig so weitergehen konnte, dieses Hin- und Herwechseln zwischen den Welten, und dass etwas geschehen würde, um alldem unabwendbar ein Ende zu bereiten. Hätte ich damals sorgfältig nachgedacht, abgewogen und meinen Verstand darauf vorbereitet, dann wäre ich nicht so leicht der Sünde verfallen, die Gott dazu veranlassen sollte, uns einen so schrecklichen Schlag zu erteilen. Wenn ich zurückdenke, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie ich nur so töricht hatte sein können.
Die Blätter fielen, und es war das dritte Jahr meiner Freundschaft mit Caleb. Ich war ins Hochland gegangen, wo die Heidelbeeren später reif wurden. Wie gewöhnlich tauchte er urplötzlich und unerwartet aus dem Schatten eines großen Granitfelsbrockens auf. Er hatte den Katechismus dabei, den ich ihm vor so langer Zeit geschenkt hatte, und drückte ihn mir in die Hand. »Ab heute werde ich mich nicht mehr mit dir treffen. Such nicht nach mir«, sagte er.
Diese überraschende Ankündigung traf mich wie ein Gertenhieb. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Warum weinst du?«, fragte er mich barsch.
»Ich weine nicht«, log ich. In seinem Volk galten Tränen als Zeichen für einen schwachen Charakter.
Er nahm mein Kinn in seine Hand und hob mein Gesicht an. Seine Finger waren rau wie Schmirgelpapier. In den zweieinhalb Jahren, die ich ihn kannte, war er gewachsen und mittlerweile anderthalb Kopf größer als ich. Ein dicke Träne kullerte mir über die Wange und fiel auf seinen Handrücken. Er ließ mein Gesicht los, legte die Hand an seine Lippen, schmeckte das Salz darauf und blickte mich ernst an. Ich wandte beschämt den Kopf ab.
»Kein Grund zu weinen«, sagte er. »Die Zeit ist gekommen, dass ich ein Mann werde.«
»Warum bedeutet das, dass du dich nicht mehr mit mir treffen kannst?«
»Ich kann mich nicht mehr mit dir treffen, weil von morgen an meine Schritte mich lenken, nicht mehr ich meine Schritte. Morgen ist Jagdmond. Tequamuck nimmt mich in den tiefen Wald mit, der weit von hier entfernt liegt. Dort werde ich den Mond der langen Nächte, den Schneemond und den Hungermond ganz alleine verbringen.« Seine Aufgabe sei es, zu überleben und die harten Wintermonate durchzuhalten, seine Seele so lange zu prüfen, bis sie die Grenze zur spirituellen Welt überschreiten könne. Dort würde er sich dann auf die Suche nach seinem Leitgott in Tier- oder Vogelgestalt machen, der ihn für den Rest seines Lebens beschützen würde. Dieser Seelenführer würde seinen Verstand erhellen und ihn auf mannigfaltigste Weise auf seinem Weg begleiten bis ans Ende seiner Tage. Dort in jenen kalten Wäldern würde er sein Schicksal kennenlernen. Er sagte, wenn sein Leitgott in Gestalt einer Schlange zu ihm komme, dann würde sein Herzenswunsch in Erfüllung gehen, und er würde pawaaw werden.
Ich dachte an die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste verbracht hatte, eine ähnlich harte und einsame Prüfung für seinen Charakter und seine Entschlossenheit. Doch er hatte diese Prüfung in der Gluthitze der Wüste hinter sich gebracht, nicht im verschneiten Wald. Und als am Ende der Teufel mit seinen Visionen von Städten und der Aussicht auf
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