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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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aufgeschaut hatte. »Sie zwingen die stärksten und fähigsten ihrer jungen Männer, Gift zu trinken – die weiße Nieswurz ist eine der Pflanzen, die sie benutzen –, und wenn sie den Trunk hochwürgen, müssen sie ihn wieder und wieder schlucken, bis schließlich nur noch Blut aus ihnen herauskommt. Wenn sie sich dann kaum mehr auf den Beinen halten können, werden sie mit Stöcken geschlagen und in die kalte Nacht hinausgejagt, wo sie zwischen dornigen Stechwinden herumlaufen müssen, bis der Teufel sie einholt und sie in ihrer Ohnmacht einen Pakt mit ihm schließen.«
    »Aber warum unterziehen sie die jungen Männer diesen Prozeduren? Es ist doch gewiss gefährlich, dieses Gift zu trinken.«
    »Oh, sie wissen ganz genau, wie man einen solchen Trank so braut, dass er zwar Visionen verursacht, aber nicht tödlich ist. Sie tun es, um Macht zu erlangen, Schwester. Teuflische Macht. Einige von ihnen lernen dadurch, die Kraft Satans anzurufen, damit er Nebel aufkommen lässt und die See zum Brodeln bringt.«
    Ich spürte, wie mir das Blut heiß zu Kopfe stieg. Mutter legte ihren Arm schützend auf die Wölbung ihres Leibes. Obwohl nicht darüber gesprochen wurde, wussten wir alle, dass sie wieder guter Hoffnung war. »Genug!«, warf sie ein. »Das ist kein Thema für ein christliches Heim! Ich bitte euch, hört auf damit.« Sie fürchtete, einen Abgang zu erleiden, so wie es vor gut einem Jahr geschehen war, an einem schrecklichen Nachmittag voller blutiger Laken, Geflüster, Stöhnen und dann der Stille, denn von dem verlorenen Kind wurde nie gesprochen, auch wenn Mutter um den kleinen Jungen trauerte. Noch schlimmer vielleicht, fürchtete sie, ein solches Gerede über Satan könne jenen Boten der Finsternis dazu ermutigen, in ihren Leib zu kriechen und aus dem, was dort heranwuchs, etwas Ungeheuerliches zu machen. Ich bedauerte es, meine Frage gestellt zu haben, und bedrängte Vater nicht weiter. Obwohl Solace fünf Monate später kerngesund zur Welt kam, besteht für mich an einer Sache kein Zweifel: Jenes unüberlegte Gespräch und alles, was daraus folgte, führten dazu, dass meine Mutter im Kindbett erkrankte und starb.
    Doch damals erkannte ich die Gefahr nicht. Mein Kopf schwirrte nur so von kranken Gedanken und Vorstellungen. In jener Nacht legte ich mich auf mein Bett, und obwohl die Luft angesichts des nahenden Herbstes bereits frisch war, warf ich mich erhitzt hin und her. Was Makepeace gesagt hatte, verzehrte mich schier. Ich dachte an jenen vertrauten, kastanienbraunen Körper, nackt in der Dunkelheit und vor Anstrengung zitternd. Und ich sah Satan in seiner Schlangengestalt, wie er sich um jene geschundenen Beine wand und zischend Verheißungen der Macht flüsterte.

VIII
    Wer sind wir in Wirklichkeit? Sind unsere Seelen vorgeformt, und ist unser Schicksal durch Gott vorbestimmt, noch bevor wir unseren ersten Atemzug auf dieser Welt tun? Erschaffen wir uns selbst durch die Entscheidungen, die wir aus freiem Willen treffen? Oder sind wir nur Ton, der geknetet und in genau die Form gebracht wird, die man von höherer Seite für die beste hält?
    An einem der Tage, die auf Calebs Abschied folgten, wurde ich fünfzehn, und meine begrenzte Welt verengte sich noch mehr. Ich begann mich mehr und mehr wie der Ton zu fühlen, der unter den Stiefeln anderer Menschen platt getreten wird. Am Tage des Herren ging ich in die Versammlung, hob meine Augen zu Gott und streckte ihm die Hände entgegen, stimmte in die Lieder mit ein und nahm die Worte der Heiligen Schrift Laut um Laut in mich auf. Doch mit den Gedanken war ich ganz woanders. Welche Entscheidung hatte ich jemals getroffen, die ganz und gar meine eigene war? Von Geburt an hatten andere auch die kleinste Einzelheit meines Lebens bestimmt. Dass ich die Bewohnerin einer Kolonie und einer Insel war, dass ich an diesen wilden Gestaden aufwuchs, war das Ergebnis von Entscheidungen, die mein Großvater gefällt hatte, lange bevor von mir die Rede war. Dass ich zwar lesen und schreiben konnte, aber nicht in die Schule gehen und lernen durfte, war die Entscheidung meines Vaters; das Los eines Mädchens eben. Etwa in jener Zeit hörte ich Vater und Großvater des Öfteren von Noah Merry reden, dem zweiten Sohn des Müllers, der südlich von uns am flinksten Bach der Insel wohnte. Sie sagten, er sei ein guter und frommer Junge, ein fleißiger Bauer, und würde wohl irgendwann auch einen guten Ehemann für mich abgeben. Folglich würden selbst diese Entscheidung, so

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