Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
mein Ohr drangen, doch wir fassten uns an den Händen und drückten sie gegenseitig.
»Ein armer Kerl war da, ich dachte, ich könne ihm helfen, weil er in so erbärmlichem Zustand dalag, und so versuchte ich ihn hochzuheben …« Tilmans Stimme wurde so brüchig, dass er kaum noch zu verstehen war. »Ich hatte nicht gesehen, dass seine arme, aufgeplatzte Haut an der Matte klebte, auf der er gelegen hatte, und so riss ein großes Stück davon ab, als ich ihn umdrehte. Statt Haut war da fast nur noch frisches und geronnenes Blut, ein überaus schrecklicher Anblick …« Er brach ab, und ich hörte, wie er tief durchatmete, um seine Fassung wiederzuerlangen. Mutter ging in die Küche, um eine heiße Milch mit Honig zuzubereiten, die sie ihn dann drängte zu trinken. Sosehr mich die Sorge um das allgemeine Wohl dieser Menschen erfüllte, war ich doch in Gedanken vor allem bei Caleb. Früher hatte ich mir gewünscht, ihn von seiner Aufgabe im Wald zurückholen zu können. Jetzt konnte ich nur mit aller Inbrunst beten, er möge immer noch dort draußen sein und nicht blutend und sterbend bei seinen Stammesbrüdern liegen.
»Es ist gut, dass Euer Gatte uns gedrängt hat, dorthin zu gehen«, sagte Tilman zu Mutter, als er sich schließlich wieder gefangen hatte. »Die Krankheit hatte sie so sehr im Griff, dass sie sich einige Tage nicht gegenseitig helfen konnten. Feuerholz gab es keines mehr, und in ihrer Not verbrannten sie ihre gesamten Holzgefäße – ihre Mörser, die Schüsseln, selbst die Pfeile. Auch Nanaakomin, der Sohn des sonquem, hat das getan, bevor die Krankheit auch ihn niederstreckte. Wenig später traf ich auf seine Mutter, die squa des sonquem, die tot am Wege lag … Sie und ihre kleineren Kinder hatten sehr an Durst gelitten, doch niemand hatte ihr Wasser gebracht, und so war sie auf allen vieren losgekrochen, um Wasser von der Quelle zu holen. Natürlich habe ich sie begraben und zwei ihrer Kinder mit ihr. Euer guter Mann lässt sie uns auf ihre Art bestatten, eingeschnürt in Rehleder. Diejenigen, die überleben, sind ihm für seine Freundlichkeit dankbar und küssen ihm die Hände.«
In mir verkrampfte sich alles, als ich seinem Bericht lauschte. Ich trat in den Raum und stellte ihm die Frage, die mich schon die ganze Zeit schier verzehrte: »Ich habe gehört … Hat denn der sonquem nicht zwei Söhne? Was ist mit dem anderen?«
Tilman hob ratlos die Achseln. »Von einem zweiten Sohn hat uns niemand etwas gesagt. Der Verlust von Nanaakomin wog dort so schwer, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass es noch einen weiteren Sohn gibt.«
Es war Makepeace, der bemerkte, dass Mutter blass geworden war und schwitzte, und der sie drängte, nach oben zu gehen und sich aufs Bett zu legen. Ich jedoch war in dem Moment in Gedanken nur bei Caleb und dachte überhaupt nicht an diejenigen in meiner Nähe. Die Vorstellung, dass Caleb längst verstorben war, ließ mich einfach nicht los. Hätte er sonst etwa seine Mutter und Geschwister einfach liegen und sterben lassen, ohne sich um sie zu kümmern? In diesem Moment übermannte mich tiefste Verzweiflung und Kummer, hatte ich doch in meinem Schmerz niemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte.
»Und wo ist dieser Scharlatan geblieben?«, fragte Makepeace, als er aus dem Zimmer unserer Mutter zurückkehrte. »Ich bete zu Gott, dass er ihn endlich zur Strecke gebracht hat, oder wie konnte es sonst geschehen, dass man Euch und Vater dort Einlass gewährte?«
»Es heißt, er sei noch am Leben. Laut einem, der noch in der Lage war, es zu erzählen, hat er sich mit allerlei Hexereien verausgabt, um die Krankheit abzuwehren, doch als sich seine Zauberkräfte als machtlos erwiesen, ist er auf und davon, um irgendeinen anderen, stärkeren, geheimen Ritus zu vollziehen – zumindest glauben sie das. Ich für meinen Teile denke, dass er wahrscheinlich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Ort verlassen hat, um seine eigene verfluchte Haut zu retten.«
Wie oft sagen wir, Gottes Wege seien unergründlichund seine Wunder unermesslich . So wie Gott dem Volk Ägyptens sieben Plagen schickte, um sein Volk Israel aus der Gefangenschaft zu befreien, so sagen viele, habe er auch den Leuten in Nobnocket diese Plage geschickt, um die Seelen derer, die Sklaven des heidnischen Glaubens waren, zu befreien. Es fällt mir besonders schwer zu glauben, dass so viel Gutes von jenem schrecklichen Todesregen gekommen sein soll, und so sage ich nichts, wenn darüber
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