Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Zu diesem Behufe muss ich meine Schilderung dort wiederaufnehmen, wo ich sie abgebrochen habe, an dem Abend, bevor Caleb zu uns kam. Hier vor mir liegen allerhand lose Blätter und Seiten, die ich damals Hals über Kopf aus meinem Versteck unter der Matratze hervorholte und an mich nahm, bevor ich die Insel verließ.
Die Insel. Wenn ich beginne, meine Verluste zu zählen, dann liegen sie hauptsächlich dort. Nimmt Gott einen Menschen zu sich, den wir lieben, dann verspüren wir diesen Verlust in unserem Herzen. Dennoch wissen wir, dass nichts die Toten ins Leben zurückholen kann, und so bemühen wir uns, uns mit dem Geschehenen abzufinden. Doch die Insel – ihre salzige Luft, das ewig sich wandelnde Licht –, all diese Dinge existieren weiter. Dort brechen sich die glasklaren, sauberen Wellen noch immer am Strand, und die Tonklippen leuchten noch immer bei jedem Sonnenuntergang rostrot und violett. All das bleibt bestehen, doch ich bin nicht dort, um mich daran zu erfreuen. Es ist ein Verlust, der mir unter die Haut geht. Hier suche ich auf dem flachen Marschland und den frisch gedüngten Weiden vergeblich nach der Schönheit, an der ich früher täglich teil hatte. Und so gleicht mein Zustand einem kleinen Tod; und dieser Ort hier ist mein Fegefeuer.
Eines wenigstens habe ich im Überfluss, und das ist Papier. Während die Jungen im Klassenzimmer auf Schiefertafeln schreiben, ist ihr Schulmeister, der Master, großzügig – man könnte auch sagen, verschwenderisch – im Umgang mit Papier. Umso besser für mich. Ich kann alle zerknüllten Reste und nur teils beschrifteten Blätter an mich nehmen, wenn ich wie jeden Tag sein Zimmer saubermache, frische Tinte nachfülle und seine Federhalter richte. So ausgerüstet kann ich dann weiterschreiben …
Jener Tag des Herrn, als Caleb endlich zu uns kam, war hell und strahlend. Es war einer dieser herrlichen Tage Anfang März, die die Sinne liebkosen und vom Frühling künden, obwohl man weiß, dass noch ein gutes Stück schlechtes Wetter vor einem liegt. Doch an jenem Tag war die strenge Kälte zum ersten Mal einer milderen Witterung gewichen, und kleine Rinnsale aus Tauwasser liefen über die Wege, quollen aus dem mit altem Laub bedeckten Boden und flossen fröhlich plätschernd in Richtung Seen und Tümpel. An einigen Stellen war das harte, weiße Eis bereits weich geworden und bot den Ottern einen Ruheplatz, wenn sie sich aus dem dunklen Wasser an die Oberfläche zogen und in der ungewohnten Helligkeit planschten und spielten.
Am Tag zuvor hatte Vater Caleb aus Manitouwatootan abgeholt und ihn in Großvaters Haus gebracht, wo er die Nacht verbringen sollte. Großvaters Kammerdiener hatte ihn dann für die Versammlung am Sabbat gebadet und ihm das Haar gestutzt. Großvater scherzte, bevor der junge Mann mit uns das Evangelium des Herrn teilen könne, müsse er erst noch das »Evangelium der Seife« beherrschen.
Obwohl uns Vater diesen Scherz erzählte, als er nach dem Abliefern von Caleb bei Großvater nach Hause kam, spürte ich sein Unbehagen. Er hatte der Gemeinde noch nicht mitgeteilt, dass er vorhatte, Caleb bei uns im Haus aufzunehmen, und er konnte nicht sicher sein, wie man auf diese Nachricht reagieren würde. Nur die Reaktion der Aldens war klar vorhersehbar: Sie würden seiner Entscheidung ablehnend gegenüberstehen und darin vielleicht sogar einen Anlass finden – wonach Giles Alden immer trachtete –, unsere Familie in Verruf zu bringen und Großvaters Position in Frage zu stellen. Als ich genauer darüber nachdachte, wurde mir klar, dass Vater seine Entscheidung, Caleb bei der Versammlung vorzustellen, bewusst so gefällt hatte, weil er dort ein gerüttelt Maß an Kontrolle darüber hatte, was getan und gesagt wurde. Dennoch gab es gewisse Risiken. Ein Ausbruch der Aldens während der Versammlung, am Tage des Herrn, würde die Gemeinde in betrübliche Aufregung versetzen und vielleicht auch ein ungünstiges Licht auf Vaters Urteilskraft werfen.
Es heißt, der Tag des Herrn solle ein Tag der Ruhe sein, doch die das predigen, sind im Allgemeinen keine Frauen. Selbst am Sabbat muss ein Feuer geschürt werden, es muss Wasser geholt und Proviant gerichtet, es müssen Kinder gewaschen und in ihre Sonntagskleider gesteckt werden. Wer sich eine Kuh leisten kann, muss sie melken, denn bislang hat noch keiner einer Kuh gepredigt, sie möge nicht all die Milch produzieren, die ihren Euter prall und hart werden lässt. Und so ist große Eile geboten, bis
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