Inselglück
trug ein Lederhalsband mit einer darin verflochtenen weißen Muschel und Shorts in Grün und Schwarz, die ihm bis über die Knie reichten. Meredith sah ihn ganz deutlich vor sich – den kindlichen, gebräunten Rücken eines Jungen, unter dessen glatter, weicher Haut sich schon Muskeln abzeichneten, eines Jungen, dessen Stimme noch nicht gebrochen war, der sie noch Mommy nannte.
Mommy! Guck mal!
»Wie alt sind deine Söhne jetzt?«, fragte Toby.
»Leo ist sechsundzwanzig und Carver vierundzwanzig. Sie leben in Connecticut. Leo hat eine Freundin, Anais.«
Toby nickte. Das Hemd ließ seine Augen sehr grün wirken.
Mommy! Guck mal!
»Leo hat für Freddy gearbeitet, deshalb wurde monatelang auch gegen ihn ermittelt. Aber vor ein paar Tagen hat mein Anwalt angerufen und erklärt, er sei entlastet.«
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Toby.
»Die allerbeste«, bekräftigte Connie und gab Toby einen Klaps. »Leo ist mein Patensohn, weißt du nicht mehr?«
»Du warst sicher eine großartige spirituelle Begleiterin durch die Krise, Tante Connie.«
»Ich habe mich total verrückt gemacht deswegen«, sagte Meredith. »Die Kinder sind einem ja doch am wichtigsten.«
»Ich weiß«, bestätigte Toby.
»Gegen mich wird allerdings immer noch ermittelt.« Meredith lächelte schwach. »Also genieße meine Gegenwart, denn ich könnte jederzeit ins Gefängnis wandern.«
»Meredith«, sagte Connie.
»Stimmt, ich sollte nicht jammern. Insgesamt haben wir einen sehr schönen Sommer gehabt.«
»Bis auf den toten Seehund«, warf Toby ein.
»Harold«, sagte Meredith. »Er war wie ein Haustier für uns, und sie haben ihn ermordet.«
»Und vergiss die zerstochenen Reifen und die Schmiererei am Haus nicht«, ergänzte Connie. »Meredith hat sich den halben Sommer über im Haus versteckt.«
»Wow!«, sagte Toby. »Das sind ja eine Menge schmerzhafter Erinnerungen!«
Meredith stand auf. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, musste sie daran denken, was bei der Trauerfeier für Veronica passiert war, und ihr wurde schwindlig. »Ich gehe nach oben und lege mich ein bisschen hin.«
»Bitte bleib«, bat Connie.
»Ich kann nicht«, sagte Meredith, und als sie merkte, wie grob das klang, fügte sie hinzu: »Ich kann kaum die Augen offen halten.«
»Okay«, sagte Connie. »Wenn du unbedingt willst.« Sie griff nach Merediths Hand. Connie war sehr lieb. Sicher machte sie sich Sorgen, Meredith könne verrückt werden. War sie verrückt? Irgendetwas war mit ihr. Sie brauchte Zeit, um die Situation zu verarbeiten.
Sie ging hinauf in ihr Zimmer und machte ihre Balkontür einen Spalt weit auf, so dass sie die murmelnden Stimmen von Toby und Connie hören konnte. Was sagten sie?, wollte Meredith wissen. Sie stellte sich in den Streifen Sonnenlicht zwischen die Türflügel und lauschte. Connie sagte gerade: »Na ja, du bist nicht zu Chicks Beerdigung aufgekreuzt … «
»… mich immer geschämt dafür. Aber ich war ein Teenager … «
Meredith warf sich aufs Bett. Ihre Erinnerungen an Toby und ihren Vater waren stark miteinander verflochten. Früher hatte sie sie beide gehabt, dann erst den einen und dann den anderen verloren, und damit war ihre Jugend vorbei gewesen. Sie dachte daran, wie ihr Vater und Toby vorn auf dem Rasen Laub harkten oder sich im Fernsehen gemeinsam Footballspiele anschauten. Sie dachte daran, wie ihr Vater Toby zu »dem Gespräch« beiseitegenommen hatte. Respektiere meine Tochter. Sei ein Gentleman. Sie dachte daran, wie Chick Toby einlud, sich am Pokerspiel zu beteiligen, und wie sehr Toby sich darüber gefreut hatte. Es war seine Initiation in das Leben als Mann gewesen. Sie dachte daran, wie Chick und Toby sich beim Brunch im Hotel du Pont zusammen über das Roastbeef hermachten. Sie dachte an ihre Abschlussfeier an der Merion Mercy. Sie hatte auf dem Podium gestanden, um ihre Begrüßungsrede zu halten, und als sie aufs Publikum schaute, saßen da Veronica und Bill O’Brien, Toby und ihre eigenen Eltern alle nebeneinander in einer Reihe. In diesem Moment hatte sie im Geiste ihre Hochzeit vor sich gesehen. Ihre zwangsläufige Ehe mit Toby. Aber keine vierundzwanzig Stunden später hatte Toby seinen sprichwörtlichen Seesack gepackt und verkündet, dass er Meredith verlasse. Meredith erinnerte sich an die Fahrstunden bei ihrem Vater auf dem Universitätsparkplatz von Villanova in der einsetzenden Dämmerung, an den Geruch von heißem Asphalt und gemähtem Gras, an die Rufe der wenigen Studenten, die den
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