Inselglück
sie sich in die Toilette erbrach, bis ihr Magen völlig leer war.
Toby brachte Meredith einen Becher Kaffee, den sie nicht einmal ansehen, geschweige denn trinken konnte, und sein Handy. Am anderen Ende der Leitung sei Connie.
»Oh Schatz«, sagte Connie. »Es tut mir so leid.«
Meredith saß in der Küche. Sie war in einem hellen, sonnigen Raum mit einem Rudel Wölfe im Rücken. »Es ist ein herrlicher Tag«, sagte sie. »Unternehmt was Schönes, du und Dan. Das Haus solltest du meiden, bis wir die Reporter los sind.«
»Dan hat Ed Kapenash angerufen. Die Polizei schickt jemanden, der die Menge auflöst.«
»Ich hoffe, das klappt«, sagte Meredith.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Connie.
Bring mich zurück ins Gestern, dachte Meredith. »Nein.« Alles, was getan werden musste, musste sie selbst tun.
»Du klingst nicht mal wütend«, sagte Connie. »Bist du nicht wütend, Meredith?«
Wütend?, dachte Meredith.
»Das wirst du ihm doch nicht auch noch durchgehen lassen, oder?«
»Ich habe ihm überhaupt nichts durchgehen lassen, Connie.« Meredith hörte etwas Streitsüchtiges in ihrer eigenen Stimme. Dabei wollte sie nicht streiten. Sie wollte nichts fühlen. Sie wollte nachdenken. »Ich ruf dich später an, okay?«, sagte sie.
»Okay«, entgegnete Connie. »Ich hab dich lieb.«
Auf diese Worte hatte Meredith den ganzen Sommer über gewartet. Sie hoffte, dass Connie sie ehrlich meinte und nicht nur aus Mitleid sagte. »Ich hab dich auch lieb.«
Sie schaffte es, sich das Gesicht zu waschen, und zog einen sehr bequemen weißen Rock und ein mattrosa T-Shirt an. Sie bürstete ihre Haare und putzte sich die Zähne. Irgendetwas an diesen simplen Tätigkeiten erschien ihr endgültig, als ob sie sie zum letzten Mal verrichtete. Wie sollte sie weitermachen?
Toby klopfte an die Tür und streckte den Kopf herein. »Wie geht’s dir? Alles in Ordnung?«
Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Und gleichzeitig hatte sie Angst vorm Alleinsein. »Sind sie noch da draußen?«, fragte sie.
»Ja, aber die Polizei kommt jede Minute. Ich gehe runter und warte auf sie. Ist das okay?«
Okay?, dachte sie.
Meredith versuchte, ruhig und rational zu sein. Im Unterschied zum 8. Dezember, als sie mit einer Situation von so ungeheurer Tragweite konfrontiert gewesen war, dass sie sie gedanklich kaum hatte fassen können, war der heutige Tag einfach. Heute ging es nur um einen Mann, der seine Frau betrogen hatte. Sie, Meredith, war die Frau.
Sie verspürte noch keinen Schmerz, sondern verharrte in einer Art Atemlosigkeit, einem Schockzustand. Wieso Schock? Sie hatte Samantha und Freddy doch zusammen in Freddys Bibliothek gesehen, Freddy mit der Hand auf Samanthas Rücken erwischt, es aber als unwichtig abgetan. Es war wie eine Flaumfeder gewesen, die sie von ihrer Handfläche in die Luft geblasen hatte. Und warum? Weil es, wenn sie es ignorierte, nicht real war? Weil das, was sie nicht wusste, ihr nicht wehtun konnte? Galt das auch für Freddys abscheuliche Verbrechen? Hatte sie sie nicht direkt vor der Nase gehabt, sich aber geweigert, sie zu sehen?
Toby war noch unten. Meredith schlich den Flur entlang in Connies Suite und öffnete die Tür zu Connies Bad.
Da waren die Tabletten. Sechs bernsteinbraune Fläschchen in einer Reihe. Meredith überprüfte sämtliche Etiketten, als hätte sie die Namen der Medikamente vergessen oder die genaue Reihenfolge, in der sie sie vorfinden würde, oder das Gewicht in ihrer Hand. Connie hatte keine Tabletten genommen.
Meredith war auf das Lorazepam aus. Und ja, ihr kam der Gedanke, den ganzen Inhalt der Flasche zu schlucken und ihr Leben gleich hier in Connies Zimmer zu beenden. Wenn das, was Samantha der Presse gesagt hatte, stimmte, wenn sie und Freddy ein Liebespaar gewesen waren – schon bei der Vorstellung musste Meredith würgen – , was blieb ihr dann übrig, als ihrem Leben ein Ende zu setzen?
Sie nahm sich drei Lorazepam. Zwei hatte sie schon, in einer Pillendose in ihrem Bad. Wenn sie alle fünf schluckte, würden das zu viele sein? Vielleicht. Sie würde sich die zwei, die sie hatte, aufsparen und diese drei gleich hier und jetzt nehmen. Sie wusste, was sie wollte: mehr als Schlaf, weniger als den Tod. Sie wollte ohnmächtig sein, betäubt, bewusstlos, unerreichbar, unantastbar.
Sie schaffte es bis in ihr Zimmer, schloss die Tür, sah nach, ob die Balkontür verriegelt war, legte sich ins Bett und vergrub ihr Gesicht in dem süß duftenden rosa Kopfkissen. Zu
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