Inselglück
nicht vorlesen.«
Connie bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck. In der Highschool hatte sie jedes Mal, wenn Meredith krank oder bei einem frühen Training war, begierig die Chance ergriffen, für sie in der Morgenandacht als Vorleserin einzuspringen. Sie war krank vor Neid gewesen, als Meredith bei der Abschlussfeier die Begrüßungsrede gehalten hatte. Anders als neunzig Prozent ihrer Mitbürger hatte Connie keine Angst davor, öffentlich aufzutreten – im Gegenteil.
»Ich?«, wiederholte sie. »Deine Sprecherin?«
»Bitte«, sagte Meredith. Es war besser, wenn die schöne, gelassene rothaarige Connie die Erklärung vortrug. Amerika würde Connie lieben. Die Menschen würden sehen, dass Meredith jemanden hatte, der an sie glaubte. Aber am wichtigsten war, dass sie nicht selbst würde vorlesen müssen.
»Okay«, stimmte Connie zu und stand auf.
»Du willst doch nicht so rausgehen?«, fragte Dan. Connie war noch in Nachthemd und Morgenmantel.
»Nein«, sagte Connie. »Ich ziehe mir was an.«
Wenige Minuten später trug sie eine weiße Leinenhose und ein grünes Leinenhemd und flache Sandalen. Sie sah aus wie einem Modekatalog entsprungen. Mit dem Zettel in der Hand ging sie direkt auf das Ende der Einfahrt und die merkwürdigste Pressekonferenz aller Zeiten zu. Blitzlichter flammten auf. Meredith schloss hinter ihr die Haustür.
Sie hätte Connie gern vom Fenster aus beobachtet, war sich aber sicher, dass sie dabei fotografiert werden würde. Also setzte sie sich mit Toby und Dan an den ovalen Esstisch und wartete. Sie stellte sich all die Menschen im ganzen Land vor, die Merediths Worte aus Connies Mund hören würden.
Zunächst einmal würde Ashlyn Connie auf dem Bildschirm sehen. Ob Connie daran gedacht hatte? Leo und Carver würden Connie sehen, Gwen Marbury, Amy Rivers, Connies Freundin Lizbet. Tobys Exfrau in New Orleans, Dustin Leavitt, Trina Didem, Giancarlo, der Portier, Julius Erving. Ganz Amerika würde zuschauen, Samantha selbst auch. Womöglich würde sogar Freddy vor einem Gefängnisfernseher sitzen.
Und was würde er denken?
Ein paar Minuten später trat Connie wieder ins Haus. Die Reporter, weit entfernt davon, sich zu zerstreuen, riefen ihr etwas zu. Was riefen sie?
Connie war rosig und außer Atem, als hätte sie einen Wettlauf hinter sich. Sie schwitzte.
»Wie war’s?«, fragte Dan.
»Wasser?«, fragte Toby.
Connie nickte. »Ja, bitte.«
Sie gingen alle in die Küche, wo Toby seiner Schwester ein Glas Eiswasser mit Zitrone machte.
»Was schreien sie?«, erkundigte Meredith sich.
»Fragen«, sagte Connie. »Sie haben Fragen.«
Sie haben Fragen?, dachte Meredith.
»Die meisten wollen wissen, ob du dich von ihm scheiden lässt«, erklärte Connie.
»Mich scheiden lasse?«
»Dich von ihm trennst.«
»Mich von ihm trenne?« Das verstand Meredith nicht. Oder vielleicht, dachte sie, erfassten die Reporter die Situation nicht. Der Mann saß für hundertfünfzig Jahre im Gefängnis. Er würde nie freikommen. Womöglich nahmen die Leute ja an, Meredith würde nach North Carolina ziehen, ihn jede Woche besuchen, ihren Kongressabgeordneten bearbeiten und zehn oder zwölf Jahre lang geduldig auf die Einräumung ihrer ehelichen Rechte warten, damit sie und Freddy sich in einer Baracke mit Blechdach lieben konnten. Vielleicht hatte Meredith sich das ja selbst vorgestellt. Aber nein – sie plante nichts dergleichen. Die Gegenwart war so überwältigend, dass sie gar keine Energie hatte, sich irgendeine Zukunft auszumalen, mit oder ohne Freddy.
Wollte sie sich von ihm scheiden lassen?
Sie wusste es nicht.
Meredith war Katholikin, sie glaubte an das Sakrament der Ehe, sie glaubte an die Gelübde – bis dass der Tod uns scheidet. Ihre Eltern waren verheiratet geblieben, ebenso wie ihre Großeltern. Sie und Freddy würden nie wieder als Ehepaar zusammenleben, warum also sollte sie sich scheiden lassen?
Auf der anderen Seite des Raums begegnete sie Tobys Blick.
Meredith sollte sich scheiden lassen, weil es ihr dann freistand, wieder zu heiraten. Neu anzufangen.
Die Vorstellung war anstrengend.
»Ich kann diese Fragen nicht beantworten«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Connie umarmte sie so stürmisch, dass Meredith fast umfiel.
»Alles wird gut«, sagte Connie. »Ich glaube, die Erklärung bewirkt etwas, jedenfalls dann, wenn sie erkennen, dass das alles ist, was sie kriegen.«
»Und du hast weiter nichts gesagt?«, wollte Meredith wissen. »Du hast nicht für
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