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Inselkönig

Inselkönig

Titel: Inselkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nygaard
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Leute es ihm nur in
die Schuhe, weil es bequem ist, für jedes eigene Versagen einen Sündenbock zu
haben? Jetzt kann man alles Schlechte auf der Insel Nommensen anlasten.«
    »Bist du schon jemandem begegnet, der uns Gutes über
den Toten berichtet hat?«, fragte Große Jäger.
    »Mit Sicherheit war er ein unangenehmer Zeitgenosse.
Das wirkt wie ein Kollektiv. Wer Entlastendes über den Charakter des Mordopfers
sagt, grenzt sich aus und wird womöglich in der Zukunft geschnitten. Das kann
man sich in einem überschaubaren Gemeinwesen wie einer Insel nicht leisten.«
    »Nur Nommensen durfte sich alles herausnehmen. Gegen
den hat niemand aufbegehrt.« Große Jäger rieb Daumen und Zeigefinger der
rechten Hand gegeneinander. »Es ist überall gleich: Geld regiert die Welt.«
    »Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing«, sagte
Christoph.
    Große Jäger klopfte sich auf die Oberschenkel. »Da
haben wir aber schon einen ganzen Chor von Falschsängern aufgetan.«
    »Da ist es schwierig, die Jubelgesänge dazwischen
herauszuhören.«
    »Häh?« Der Oberkommissar sah Christoph verständnislos
an.
    »Wenn es kein Testament gibt, wie uns die Mutter
glaubhaft machen wollte, tritt die gesetzliche Erbfolge in Kraft. Die Mutter
erbt die Hälfte des Vermögens, während sich die Kinder die andere Hälfte
teilen.«
    »Es gibt nur eine Tochter. Das bedeutet, Mutter und
Tochter sind gleichberechtigte Erben und haben demzufolge auch gleiche
Stimmrechte.«
    »Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte Christoph.
    »Sicher«, entgegnete Große Jäger. »Bente Frederiksen
ist uns wie ein verschüchtertes Reh entgegengetreten. Nur als es um die
Nachfolge des Toten ging, hat sie ihre Stimme erhoben und sich für ihren Mann
eingesetzt.« Der Oberkommissar kratzte sich die Bartstoppeln. »Es ist schon für
weniger gemordet worden«, stellte er fest.
    Sie wurden durch Christophs Handy unterbrochen.
    »Moin, Hilke«, begrüßte er die Kommissarin, die in
Husum Dienst hatte.
    Hilke Hauck zögerte einen Moment, bis sie mit belegter
Stimme sagte: »Wir haben eine schlechte Nachricht erhalten. Frau Grothe hat
angerufen.«
    Christoph spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
Polizeidirektor Grothe war im vergangenen Jahr pensioniert worden. Als
Abschiedsgeschenk hatte er Christophs Beförderung zum Ersten Hauptkommissar
durchgesetzt. Das Ausscheiden des »Chefs«, wie der passionierte Zigarrenraucher
Grothe von allen respektvoll genannt wurde, hatte die ganze Polizeidirektion
bedauert. In seiner ebenso bestimmten wie väterlichen Art hatte der Chef stets
hinter seinen Mitarbeitern gestanden und über viele Jahre die Geschicke der
nördlichsten Polizeidirektion Deutschlands mit Augenmaß erfolgreich geleitet.
Seit einem halben Jahr war sein Nachfolger im Amt.
    Christoph warf Große Jäger einen kurzen Blick zu. Der
Oberkommissar sah mit starrem Blick durch die Windschutzscheibe ins
Schneegestöber. Christoph würde nie verstehen, mit welchen Antennen der
äußerlich so grobschlächtige Mann mit dem ungepflegten Erscheinungsbild so
sensibel Sorgen und Ängste seiner Mitmenschen aufnahm. Er hatte dafür einen
untrüglichen siebten Sinn.
    Hilke schluckte noch einmal. »Es muss heute Morgen
beim Frühstück in Wesselburen gewesen sein. Die beiden waren fertig, und der
Chef hat sich seine Frühzigarre angezündet. Nach ein, zwei Zügen ist ihm die
Zigarre aus dem Mundwinkel gefallen, und er war unfähig, sie wieder
aufzunehmen. Stattdessen hat er seine Frau aus großen starren Augen angesehen.«
Hilke schwieg einen Moment. Christoph sah seine Kollegin an ihrem Husumer Schreibtisch
sitzen und mit ihren Gefühlen kämpfen. »Er konnte auch nicht mehr antworten,
sondern lallte nur. Für Frau Grothe war klar, was der herbeigerufene Arzt
bestätigt hat. Ein Schlaganfall.«
    »Ist er im Krankenhaus? Wie geht es ihm?«, fragte
Christoph. Auch er gab sich keine Mühe, seine Betroffenheit zu verbergen.
    »Bei diesem Wetter ist alles etwas schwieriger.
Normalerweise wäre der Rettungshubschrauber gekommen. Aber so musste man
warten, bis der Notarzt mit dem Rettungswagen eintraf. Das hat eine Ewigkeit
gedauert. Auch die Fahrt zum Westküstenklinikum nach Heide muss eine
Katastrophe gewesen sein. Überall sind die Straßen dicht. Es gibt nirgendwo ein
Vorankommen.«
    »Wie geht es dem Chef?«, fragte Christoph.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Hilke leise und legte
ohne weitere Worte auf.
    Sie saßen eine Weile schweigend im Auto und stierten
nach vorn. Plötzlich

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