Inselkönig
angebliche Vergewaltigung abgespielt haben.«
»Ein solches Gerücht ist doch geschäftsschädigend«,
überlegte Große Jäger laut. »Wenn es eine Lüge war, hätte sich Nommensen
dagegen zur Wehr setzen müssen. Umgekehrt – wenn ein Funken Wahrheit enthalten
ist, müsste doch eine Ermittlung gegen Nommensen gelaufen sein. Warum hat
Thomsen uns davon nichts erzählt?«
»Ihr Männer habt keine Vorstellung davon, wie es einer
Frau ergeht, der so etwas widerfahren ist«, mischte sich Anna ein. »Ich könnte
mir gut vorstellen, dass sich das Vergewaltigungsopfer geschämt hat und
schweigt.«
»Häufig sind Opfer von Straftaten auch in der Folge
betroffen«, dozierte Christoph. »Menschen, bei denen eingebrochen wurde, haben
anschließend Angst in ihren eigenen vier Wänden und fühlen sich dort nicht mehr
sicher. Sie leiden unter Schlafstörungen und achten auf jedes Geräusch. Sie sind
sogar verunsichert, wenn Stille herrscht. Täter haben keine Vorstellung davon,
was sie den Opfern zufügen. Wie viel stärker muss es die Psyche einer Frau
treffen, wenn ihr Gewalt angetan wird.«
Große Jäger zog die Aufmerksamkeit aller auf sich, als
er seinen Finger hob und wie ein Schüler aussah, der einen Beitrag zum
Unterricht beisteuern wollte. »Da war noch etwas, was Wilhelm erzählt hat. Es
sind die Nebensächlichkeiten, auf die man achten muss. Wie hat er es gleich
formuliert?« Der Oberkommissar überlegte einen Moment. »Nommensen, so hat der
alte Mann gesagt, wäre schon genug gestraft mit seiner Tochter, die unter
Depressionen leidet. Welchen Eindruck hast du von der Frau?« Er sah Christoph
an.
»Sie legt ein merkwürdiges Verhalten an den Tag.
Still, fast unterwürfig. Sie blickt ihrem Gesprächspartner nicht in die Augen,
sondern weicht aus. Auch in Gegenwart von ihr vertrauten Menschen wie der
Mutter oder dem Mann wirkt sie wie im Schneckenhaus. Einzig als es um die
Nachfolge in der Geschäftsführung ging, begehrte sie kurz auf. Ist dir das auch
aufgefallen?«
Die Frage galt Große Jäger, der zustimmend nickte. »Du
hast einen sehr weit hergeholten Gedanken.«
»Ihr wollt doch nicht sagen, dass Nommensens eigene
Tochter das Vergewaltigungsopfer ist?«, fasste Mommsen die unausgesprochenen
Gedanken seiner Kollegen zusammen.
»Das würde nicht nur die Depressionen erklären,
sondern auch, warum das Opfer des Übergriffs schweigen würde. In diesem Fall
wäre die Scham noch größer.« Große Jäger schüttelte sich bei dieser
Vorstellung. »Man müsste sich erkundigen, ob bei einem Missbrauch durch den
Vater die Wahrscheinlichkeit, ein krankes Kind zur Welt zu bringen, nicht höher
ist.«
»Du meinst den kleinen Oluf mit dem Downsyndrom?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Oberkommissar. »Ich
möchte keine falschen Verdächtigungen in die Welt setzen, schon gar nicht aus
Unkenntnis die Menschen, die mit diesem Gendefekt geboren werden, auch nur in
die Nähe einer solchen Vermutung stellen.«
Anna schob ihren Teller ein Stück von sich weg. »Nun
ist mir wirklich der Appetit vergangen. Was ist das für eine widerwärtige
Vorstellung, dass ein Vater seine eigene Tochter missbraucht und mit ihr ein
Kind zeugt.«
Christoph wollte nach Annas Hand greifen, aber sie
wich aus.
»Unser Beruf führt uns oft zu den Abgründen der
menschlichen Seele«, erklärte Christoph. »Da ist es gut, wenn man sich nach
Feierabend über andere Dinge unterhalten kann.«
Anna sah ihn lange an, dann wechselte ihr Blick zu
Große Jäger. »Ich glaube, ich muss dir Abbitte leisten, wenn du nach
Dienstschluss Zerstreuung in einer Kneipe suchst.«
»Ach«, wehrte der Oberkommissar ab. »Das hatte andere
Gründe. Ich musste nur meine Nieren spülen.«
Christoph machte Anstalten aufzustehen. »Seid ihr
fertig?«, fragte er und ließ seine Augen über den Frühstückstisch kreisen.
»Ich komme nach«, erwiderte Große Jäger, nachdem er
sich zuvor ein halbes Brötchen in den Mund geschoben hatte.
Hauptkommissar Thomsen war allein im Dienstgebäude der
Polizei am Hafen. Er sah übernächtigt aus und unternahm keinen Versuch, das
Gähnen zu unterdrücken. »Wir sind hoffnungslos unterbesetzt«, sagte er. »Aber
das trifft vermutlich auf viele andere Dienststellen auch zu. Und dann heißt
es, wir müssen weitere Stellen abbauen. Das Land muss sparen. Wenn eine solche
Situation wie dieser Schneesturm eintritt, können wir das kaum noch bewältigen.
Die Kollegen arbeiten bis zur Erschöpfung.«
»Wir haben dennoch ein paar
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