Inseln im Netz
durchdenken…«
Er verschwand vor ihren Augen. Es war schnell, und einfach. Er sprang seitwärts und wand sich dabei, als hätte er sich eingefettet, um besser durch ein Loch in der Wirklichkeit zu schlüpfen. Und dann war er fort.
Sie sprang von ihrem Stuhl auf. Ihre Knie fühlten sich weich an, zitterten. Sie sah sich um. Stille. Staub setzte sich, der feuchte, warme Geruch von all dem gestapelten Zeug. Sie war allein.
»Sticky?« sagte sie. Die Worte fielen in Leere. »Kommen Sie zurück, sprechen Sie zu mir.«
Ein Rascheln menschlicher Gegenwart. Hinter ihr, in ihrem Rücken. Sie wandte sich um, und da stand er. »Sie sind ein albernes Mädchen«, sagte er. »Jemandes Mutter.« Er schnippte ihr mit den Fingern unter der Nase.
Sie versuchte ihn wegzustoßen. Mit der Schnelligkeit eines Peitschenschlages packte er sie beim Hals. »Nur zu«, grunzte er. »Atmen Sie!«
8. Kapitel
Laura überblickte die Stadt vom Dach der Rizome-Niederlassung. Ihr Haar flatterte im Monsunwind. Das Netz war zerrissen. Der Telefonverkehr war zusammengebrochen, das Fernsehen bis auf einen Notstandskanal der Regierung eingestellt. Laura spürte die Stille lebloser Elektrizität in den Knochen.
Das Personal der Rizome-Niederlassung, ein knappes Dutzend Männer und Frauen, war auf dem Dach versammelt und löffelte ein Frühstück aus Seetang und Kaschi. Laura rieb sich nervös das leere Handgelenk. Drei Stockwerke unter ihr übte eine Gruppe junger Anti-Labour-Anhänger ihr morgendliches Tai Chi Chuan. Weiche, matte, hypnotische Bewegungen. Niemand leitete sie an, aber sie bewegten sich in völliger Übereinstimmung.
Sie hatten die Straße durch eine Barrikade gesperrt, ihre Bambusrikschas mit gestohlenen Säcken Zement, Kaffeebohnen und Gummi beladen und ineinander geschoben. Es war ihre Art, gegen die Ausgangssperre zu protestieren, die mit der unerwarteten und drakonisch durchgesetzten Verhängung des Kriegsrechtes von der Regierung angeordnet worden war. Sie lag wie eine bleierne Decke über Singapur. Die Straßen gehörten jetzt der Armee. Und auch der Himmel… Gewaltig aufgetürmte Monsunwolken über dem morgendlichen Südchinesischen Meer, ein schimmernder tropischer Glanz wie gebauschte graue und weiße Seide. Vor dem Wolkenhimmel die insektenhaften Schattenrisse von Polizeihubschraubern.
Zuerst hatte die Opposition erklärt, daß sie sich bei ihrem Widerstand gegen die Suspendierung der Bürgerrechte auf gewaltfreie Proteste beschränken wolle, doch hatte sich schon bald gezeigt, daß ihre Führung die Masse der Anhänger nicht in der Hand hatte. In der Nacht des Vierzehnten waren Trupps von Randalierern und Plünderern in Kaufhäuser und Bürogebäude eingedrungen, hatten Schaufensterscheiben eingeschlagen und Straßensperren errichtet. Inzwischen hatte sich der Aufruhr wie ein Flächenbrand ausgeweitet, und jetzt schwärmten die Rebellen durch die Rizome-Niederlassung und eigneten sich an, was sie für nützlich hielten…
Hunderte von ihnen durchstreiften plündernd und verwüstend die Hafenfront, schlangenäugige junge Radikale in blutroten Stirnbändern und zerknitterten Papierkleidern, Operationsmasken vor Mund und Nase, um ihre Identitäten vor den Videokameras der Polizei zu verbergen: Wenn Gruppen einander an Straßenecken begegneten, gab es jedesmal ein rituelles Händeschütteln. Einige von ihnen hatten Funksprechgeräte.
Das Hafengebiet war einer ihrer Hauptsammelplätze. Wahrscheinlich steckte eine Art Einsatzplan dahinter, denn der Bezirk war schon lange das Bollwerk der Opposition, ihr natürlicher Nährboden.
Infolge der gegen Singapur gerichteten internationalen Handelsbeschränkungen litten Schiffahrt und Schiffbau seit Jahren unter einer schleichenden Krise. Die mächtige Hafenarbeitergewerkschaft hatte mit wachsender Erbitterung gegen die Herrschaft der Volkserneuerungspartei protestiert, bis die Regierung sie durch eine gezielte Investition in Industrieroboter entmachtet hatte.
Durch das Handelsembargo aber waren selbst die Verladeroboter einen großen Teil der Zeit untätig. So war es Rizome ohne größere Schwierigkeiten gelungen, im Schiffahrtsgeschäft Fuß zu fassen: Obwohl sie gewußt hatte, daß Rizomes Absichten auf ihre politische Destabilisierung abzielten, hatte die Regierung von Singapur sich die Chance, das Embargo auf diesem Weg zu unterlaufen, nicht entgehen lassen.
Der Angriff der Regierung auf die Gewerkschaft war, wie die meisten ihrer Aktionen, scharfsinnig, weitblickend
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