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Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Seelenqual.
    Ein Monat, und ein Monat, und ein Monat, und ein Monat.
    Und noch ein Monat, und noch einer, und ein weiterer, und wieder einer.
    Und dann drei, und dann noch einer.
    Ein Jahr.
     
    Sie war seit einem Jahr im Gefängnis. Ein Jahr war keine besonders lange Zeit. Sie war dreiunddreißig Jahre alt. Sie hatte weitaus mehr Zeit außerhalb des Gefängnisses verbracht als in ihm, nämlich zweiunddreißigmal soviel. Viele Menschen hatten wesentlich längere Zeiträume im Gefängnis zugebracht. Sie wußte von einzelnen, die man länger als vierzig Jahre eingesperrt hatte.
    Man behandelte sie jetzt besser. Jofuette hatte mit einer der Wärterinnen eine Art Übereinkunft getroffen. Wenn sie Dienst hatte, ließ sie Laura im Gefängnishof laufen, bei Nacht, wenn keine anderen Gefangenen außerhalb ihrer Zellen waren.
    Einmal in der Woche stellte man ihnen ein altes Videogerät in die Zelle. Es hatte einen in Algerien gefertigten Schwarzweiß-Fernseher, und es gab Videokassetten dazu. Die meisten waren uralte amerikanische Filme über Footballspiele. Die alte ruppige und verletzungsträchtige Version des Footballs war seit Jahren verboten. Das Spiel war unglaublich brutal: riesige stampfende Gladiatoren in Helmen und Panzerungen. Bei jedem vierten Spiel blieb mindestens einer der Beteiligten verwundet oder bewußtlos liegen. Manchmal schloß Laura einfach die Augen und hörte sich nur den wundervoll heimatlichen Klang des amerikanischen Englisch an. Jofuette fand die Spiele unterhaltsam.
    Dann gab es Filme: Der Sand von Iwo Jima. Die Green Berets. Phantastische, halluzinatorische Gewalttätigkeiten. Feinde wurden haufenweise erschossen und fielen übereinander wie Pappkameraden. Manchmal traf es auch die Jungen von der eigenen, selbstverständlich guten Seite, gewöhnlich in die Schulter oder in den Arm. Das gab ihnen Gelegenheit zu heldischen Grimassen, und sie wurden ein bißchen verbunden.
    Einmal kam ein Film mit dem Titel Der Weg nach Marokko. Er spielte in der nordafrikanischen Wüste, und die Hauptdarsteller waren Bing Crosby und Bob Hope. Laura hatte unbestimmte Erinnerungen an Bob Hope, dachte, sie müsse ihn gesehen haben, als sie noch ganz jung und er schon sehr alt gewesen war. In dem Film war er jung und sehr lustig, in einer drollig altmodischen Art. Es schmerzte schrecklich, ihn zu sehen, als wäre ihr ein Verband abgerissen worden, unter dem tiefe Wunden lagen, die sie hatte betäuben können. Sie mußte das Band mehrmals anhalten, um sich Tränen aus den Augen zu wischen. Schließlich riß sie die Kassette heraus und tat sie weg.
    Jofuette schüttelte den Kopf, sagte etwas in Bambara und steckte die Kassette wieder in den Recorder. Als sie es tat, fiel aus der Pappschachtel der Kassette ein zusammengefalteter Streifen Zigarettenpapier. Laura hob ihn auf.
    Während Jofuette den Fortgang der Handlung verfolgte, faltete sie das kleine Blatt Papier auseinander. Es war mit unsauberer, winziger Schrift bedeckt. Braun. Nicht Tinte. Vielleicht Blut. Es war eine Liste.
     
    Abel Lacoste - Europäischer Beratungsdienst
    Steven Lawrence - Oxfam Amerika
    Marianne Meredith - ITN Kanal 4
    Valerij Schkalow - Wien
    Georgij Valdukow - Wien
    Sergej Iljuschin - Wien
    Katsuo (?) Watanabe - Mitsubishi
    (?) Riza-Rikabi - EFT-Commerzbank
    Laura Webster - Rizome AG
    Katje Selous - A.C.A. Corps
    und vier weitere.

10.Kapitel
     
    Das zweite Jahr verging rascher als das erste. Sie hatte sich daran gewöhnt. Es war ihr Leben geworden. Sie begehrte nicht mehr, was sie verloren hatte - sie konnte die Dinge nicht einmal sich selbst mit Namen benennen, ohne ihr Gedächtnis anzustrengen. Sie war darüber hinaus: Sie war mumifiziert. Klösterlich, abgeschlossen.
    Aber sie spürte, wie der Gang der Dinge sich beschleunigte, Spinnennetzerschütterungen von Bewegungen in der fernen Außenwelt.
    Beinahe jede Nacht fanden jetzt Erschießungen statt. Feuerstöße, dann Einzelschüsse, in den Kopf, ins Genick. Wenn sie in den Gefängnishof hinunter durfte, um zu laufen, sah sie frische Einschußlöcher in der Mauer, kleine Krater, genau wie sie in der Wand des Ferienheims ausgesehen hatten. Unter diesen Pockennarben war die festgetrampelte Erde dunkel und feucht, bedeckt mit Fliegen, und strömte den kupferigen Geruch von Blut aus.
    Eines Tages zeigte der Wüstenhimmel außerhalb des Wandloches ihrer Zelle endlose Strähnen dunklen Rauches. Stundenlang fuhren Lastwagen ein und aus, und die ganze Nacht hindurch fanden Erschießungen statt.

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