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Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Englisch sprach. Sie war gedrungen und breitschultrig und hatte ein rundes, fröhliches Gesicht mit zwei fehlenden Vorderzähnen. Ihr Name war etwas wie Hofuette, oder Jofuette. Jofuette lächelte nur und zuckte die Achseln, wenn Laura englisch redete: Sie hatte keine Sprachbegabung und konnte sich ein ausländisches Wort keine zwei Tage merken. Sie war Analphabetin.
    Laura hatte kein Glück mit Jofuettes Sprache. Es war Bambara, voller Hauch- und Schnalzlaute und eigentümlichen Klangfarben. Sie lernte die Wörter für Bett und essen und schlafen und Karten. Sie brachte Jofuette ein einfaches Kartenspiel bei. Es dauerte Tage, aber sie hatten viel Zeit.
    Jofuette kam von unten, der unteren Ebene, wo die Schreie ihren Ausgang nahmen. Man hatte sie nicht gefoltert; jedenfalls waren keine Spuren an ihr zu sehen. Jofuette hatte jedoch gesehen, wie Hinrichtungen durch Erschießen stattgefunden hatten. Das geschah draußen im Gefängnishof, mit Maschinengewehren. Jofuette gab ihr zu verstehen, daß sie oft mit fünf oder sechs Maschinengewehren auf einen einzigen Verurteilten schossen; außerdem sei ihre Munition alt, mit vielen Versagern, die zu Ladehemmungen führten. Sie mußten jedoch Berge von Munition haben. Anscheinend war die gesamte Munition von fünfzig Jahren Kalten Krieges hier in afrikanischen Krisengebieten gelandet. Zusammen mit dem übrigen Militärschrott.
    Den Inspektor der Haftanstalten bekam sie nicht mehr zu sehen. Er war nicht der Direktor der Anstalt. Jofuette kannte den Mann und konnte seine Art zu gehen nachahmen; es war sehr lustig.
    Laura war ziemlich sicher, daß Jofuette eine Art Vertrauensperson, vielleicht sogar ein Spitzel der Gefängnisleitung war. Es störte sie jedoch nicht sehr. Jofuette sprach nicht englisch, und Laura hatte ohnedies nichts zu verbergen. Doch im Gegensatz zu Laura hatte Jofuette Erlaubnis, zur festgesetzten Zeit in den Gefängnishof zu gehen und dort eine Stunde mit den anderen Gefangenen im Kreis zu laufen. Bei diesen Gelegenheiten kam sie manchmal in den Besitz von Kleinigkeiten: rauhen, stinkenden Zigaretten, gezuckerten Vitaminpillen, Nadel und Faden. Sie war eine gute Gefährtin, freundlich, gutmütig und anspruchslos, besser als jede andere.
     
    Laura lernte manches über das Leben im Gefängnis. Die Kniffe, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Eine Verbindung mit der Außenwelt wäre zu schmerzhaft gewesen, um zu überleben, hätte die Wunden immer wieder aufgerissen. Sie saß einfach ihre Zeit ab. Sie erfand Erinnerungen abwehrende Methoden, Methoden der Passivität. War es Zeit zu weinen, so weinte sie. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihr, David und Loretta werden könnte, aus Galveston, Rizome und der Welt. Sie dachte meistens über berufliche Aktivitäten nach. Über die Abfassung von Texten für Public Relations. Sie stellte sich vor, wie sie vor öffentlichen Körperschaften über Terrorismus in Mali aussagte, und dachte sich die Formulierungen dazu aus. Sie schrieb in ihrer Phantasie Wahlpropaganda für imaginäre Kandidaten, die sich zur Wahl in den Rizome-Zentralausschuß stellen wollten.
    Mehrere Wochen verbrachte sie mit der Abfassung eines langen, imaginären Verkaufsprospektes, den sie Lorettas Hände und Füße nannte. Sie lernte den Text im Laufe des Prozesses auswendig und konnte ihn Satz für Satz in ihrem Kopf aufsagen, eine Sekunde pro Wort, bis sie das Ende erreichte. Dann fügte sie einen neuen Satz hinzu und fing von vorn an.
    Der imaginäre Prospekt behandelte nicht das Baby selbst, das wäre zu schmerzlich gewesen. Sie behandelte nur die Hände und Füße. Sie beschrieb Form und Beschaffenheit der Hände und Füße, ihren Geruch, wie sie sich anfühlten, ihren potentiellen Nutzen, wenn sie massenproduziert würden. Sie entwarf Schachteln für die Hände und Füße, und altmodische Schlagworte und Anzeigentexte für den Verkauf.
    Sie organisierte in Gedanken ein Kleidergeschäft. Sie war niemals besonders modebewußt gewesen, jedenfalls nicht seit sie erwachsen war, aber dies mußte ein extrem modisches Geschäft sein, wo Modeströmungen kreiert und der zahlungskräftigen Bevölkerungsschicht Atlantas nahegebracht wurde. Es gab Mengen von Hüten, von Schuhen, Strickwaren und Röcken, ganze farbenprächtige Bordelle von Reizwäsche.
    Sie hatte sich auf zehn Jahre festgelegt. Sie würde zehn Jahre in diesem Gefängnis sein. Das war lang genug, um jede Hoffnung zu zerstören, und Hoffnung war identisch mit Schmerz und

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