Inseln im Netz
vorbei. Hoch an den Mauern, außer Reichweite von Sprayern, warnten alte AIDS-Plakate in der steif-präzisen Prosa von Ministerialbeamten vor abweichenden Sexpraktiken.
Hinter Victoria bogen sie nach Westen ab und folgten dem Küstenverlauf zur Nordspitze der Insel. Das Gelände begann anzusteigen.
Rote Verladekräne durchstießen den Horizont über Point Sauteurs wie skeletthaftes Filigran. Laura dachte wieder an die roten Sendemasten mit ihren unheimlich springenden Warnlichtern... sie ergriff Davids Hand. Er drückte sie und lächelte ihr unter der Brille zu; aber sie konnte seine Augen nicht sehen.
Dann überwanden sie eine Anhöhe und hatten plötzlich freien Ausblick. Der Küste vorgelagert, breitete sich ein enormer maritimer Komplex aus, wie die Phantasievorstellung eines Stahlmagnaten von einem neuen Venedig, alles scharfe metallische Winkel und aufsteigendes Gitterwerk und grünliches Wasser, durchzogen von schwimmenden Kabeln… Lange schützende Hafendämme, aufgeschüttet aus tonnenschweren weißen Blöcken, zogen sich kilometerweit nach Norden. Da und dort sprang Brandungsgischt auf die Dammkrone. Das innere Wasser war zusätzlich beruhigt durch Felder orangefarbener Wellenbrecherbojen…
»Mrs. Rodriguez«, sagte David, »wir brauchen einen Fachmann für Meerestechnik. Sagen sie es Atlanta.«
(»In Ordnung, David, wird sofort gemacht.«)
Laura zählte dreißig größere Anlagen vor der Küste. Sie wimmelten von Menschen. Die meisten waren alte Ölbohrinseln, deren Beine zwanzig Stockwerke hoch im Wasser standen und deren fünfstöckige Aufbauten weithin sichtbar die Meeresoberfläche überragten. Außerirdische Riesen, die Knie umgeben von schwimmenden Anlegebrücken und kleinen verankerten Lastkähnen. Grenadas tropische Sonne schien gleißend auf die Aluminiumfassaden der Wohnquartiere, deren Größe mehrstöckigen Häusern glich, die auf den Plattformen der Bohrinseln jedoch wie Spielzeug wirkten.
Zwei kreisrunde schwimmende Anlagen zur Energieerzeugung sogen kaltes Tiefenwasser und warmes Oberflächenwasser ein, um den Temperaturunterschied von mehr als zwanzig Grad Celsius in einem geschlossenen VerdunstungsKondensationskreislauf zum Antrieb von Turbinen und Generatoren nutzbar zu machen. Schwimmende Kabel leiteten den Strom zu den anderen Installationen.
Carlotta lenkte das Dreirad auf einen Parkplatz neben der Straße und zeigte mit ausgestrecktem Arm. »Dort sind sie gesprungen!« Die Kliffs von Point Sauteur waren nur fünfzehn Meter hoch, aber die Felsblöcke zu ihren Füßen sahen ziemlich garstig aus. Mit romantisch tobenden Brechern hätten sie sich besser ausgenommen, aber die Wellenbrecherdämme und Bojen hatten dieses Seegebiet in eine schlammfarbene siedende Suppe verwandelt. »An klaren Tagen kann man von dem Kliff Carriacou sehen«, sagte Carlotta. »Draußen auf dieser kleinen Insel gibt es viel Interessantes zu sehen - sie gehört auch zu Grenada.«
Sie fuhren hinunter zur Küste, und Carlotta parkte das Dreirad auf einem weißen Kiesstreifen neben einem Trockendock. Im Innern des Trockendocks spuckten Schweißbrenner bläulich weiße Flammen. Sie stiegen aus.
Eine matte Brise wehte von der See her und trug ihnen den Gestank von Ammoniak und Karbamid zu. Carlotta reckte die Arme und inhalierte mächtig. »Düngemittelfabriken«, sagte sie. »Wie zu Hause an der Golfküste, nicht?«
»Mein Großvater arbeitete in einem Düngemittelwerk«, sagte David. »Erinnern Sie sich noch an die alten Raffineriekomplexe, Carlotta?«
»Ob ich mich erinnere?« Sie lachte. »Das da sind sie, soviel ich weiß. Sie haben all diese tote Technik spottbillig bekommen - zum Schrottwert gekauft.« Sie steckte die Ohrhörer ein und lauschte. »Andrej wartet… er kann Ihnen alles erklären. Kommen Sie mit!«
Sie gingen unter dem Schatten ragender Kräne auf den Hafenkai hinaus. Ein tiefgebräunter blonder Mann saß mit ein paar grenadinischen Hafenarbeitern auf einer niedrigen Mauerbrüstung und trank Kaffee. Alle drei trugen weite Baumwollhemden, blaue Arbeitshosen mit vielen Taschen, Schutzhelme und Arbeitsstiefel mit Stahlkappen.
»Ah, da sind sie endlich«, sagte der blonde Mann und erhob sich. »Hallo, Carlotta. Hallo, Mr. und Mrs. Webster. Und das muß Ihre kleine Tochter sein. Was für ein süßes kleines Küken.« Er berührte die Stupsnase des Babys mit einem fettigen Zeigefinger. Das Baby gurgelte und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln.
»Mein Name ist Andrej Tarkowskij«, sagte
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