Inseln im Netz
grauschwarzer Damm. Wo er endete, stand ein vierstöckiges Bürogebäude. Die Anlage war gigantisch - der schwarze Molendamm war wenigstens achtzehn Meter hoch und vielleicht vierhundert Meter lang. Andrej hielt darauf zu, und als sie näher kamen, sah Laura kleine weiße Masten über dem Damm, wie hohe Lichtmasten. Radfahrer fuhren dort wie Mücken auf Rädern. Und das Bürogebäude sah immer eigentümlicher aus, je näher sie kamen - jedes Stockwerk schien kleiner als das darunter, und alle waren durch stählerne Außentreppen miteinander verbunden. Und auf dem Dach gab es eine Menge technisches Zeug - Satellitenantennen, einen Radarmast…
Das oberste Geschoß war rund und weiß gestrichen. Wie ein Schornstein. Es war ein Schornstein.
(»Das ist ein Supertanker«,) sagte Eric King. (»Eines der größten Schiffe, die je gebaut wurden. Befuhren die Route zum Persischen Golf, in den alten Tagen.«) King lachte. (»Grenada hat Supertanker! Ich habe mich manches Mal gefragt, wo sie geblieben sind.«)
»Sie meinen, es schwimmt?« sagte Laura. »Dieser Damm ist ein Schiff? Das ganze Ding bewegt sich?«
»Es kann eine halbe Million Tonnen laden«, sagte Carlotta, die Lauras Überraschung sichtlich genoß. »Wie ein Wolkenkratzer voll Rohöl. Es ist größer als das Empire State Building. Viel größer.« Sie lachte. »Natürlich haben sie jetzt kein Rohöl darin. Es ist eine regelrechte Stadt, heutzutage. Eine große Fabrik.«
Sie fuhren mit voller Geschwindigkeit darauf zu. Laura sah, wie der Wellengang gegen die Bordwände brandete wie gegen ein Steilufer. Der Supertanker reagierte nicht mit der leisesten Bewegung; dafür war er viel zu groß. Sie hatte nie gedacht, daß es solch ein Schiff geben könnte. Es war, als hätte jemand ein Stück von Houston herausgeschnitten und an den Horizont geschweißt.
Und auf dem riesigen Deck konnte sie - was sehen? Mangobäume, Leinen mit flatternder Wäsche, Leute, die in Gruppen an der ewig langen Reling standen… es mußten Hunderte sein. Weitaus mehr, als für eine Besatzung benötigt werden konnten. Sie wandte sich zu Carlotta. »Die Leute leben dort, nicht?«
Carlotta nickte. »In diesen Schiffen geht allerhand vor.«
»Sie meinen, es gibt mehr als eines?«
Carlotta zuckte die Achseln. »Vielleicht.« Sie berührte ihr Augenlid mit der Fingerspitze, um auf Carlottas Videobrille hinzuweisen. »Sagen wir, daß Grenada zu den Ländern gehört, unter deren Flaggen die internationalen Reedereien gern ihre Schiffe fahren lassen.«
Laura starrte den Supertanker an, ließ den Blick Atlanta zuliebe langsam und sorgfältig über die ganze Länge des Riesen gehen. »Selbst wenn die Bank ihn als Schrott kaufte, muß er Millionen gekostet haben. Das ist eine Menge Stahl.«
Carlotta kicherte. »Über den Schwarzen Markt sind sie nicht allzu gut im Bilde, wie? Das Problem ist immer Bargeld. Ich meine, was man damit anfangen soll. Grenada ist reich, Laura. Und wird immer reicher.«
»Aber warum Schiffe kaufen?«
»Jetzt fangen Sie mit Ideologie an«, sagte Carlotta. »Da müssen Sie den alten Andrej fragen.«
Nun, aus der Nähe konnte Laura erkennen, wie alt das Ungetüm war. Seine Flanken waren fleckig von riesigen zusammengebackenen Massen Rost, versiegelt unter Schichten moderner High-Tech-Kunstharze. Der schellackähnliche Überzug haftete, aber nicht sehr gut; an manchen Stellen hatte er das runzlige Aussehen sich ablösender Kunststoffolien. Die verschweißten Stahlplatten des Rumpfes arbeiteten unter den Einwirkungen von Hitze und Kälte und Belastung, und selbst die enorme Stärke moderner gebundener Kunststoffe konnte sie nicht halten. Laura sah Dehnungsnarben und die aufgebrochenen Blasen von ›Schiffspocken‹, und Flächen wie Krokodilsleder, wo das Material sich plattenförmig ablöste. Dies alles war überdeckt mit neuen Flicken und großen erstarrten Tropfen schlechtverarbeiteter Ausbesserungsmasse. Hundert Schattierungen von Schwarz und Grau und Rost. Da und dort hatten Arbeitstrupps den Rumpf des Supertankers mit farbigen Graffiti besprüht: KRANKER TANKER, MUNGO-MANNSCHAFT - WIR OPTIMAL, BATAILLON CHARLIE NOGUES.
Sie machten an einer Fallreepplattform fest. Von dort schwebte ein offener Aufzug wie ein Vogelkäfig an einem Kabel zwanzig Meter hinauf zu einem schwenkbaren Kran auf Decksebene. Sie folgten Andrej in den Käfig, und der stieg ruckweise empor. David, der Tiefblicke genoß, starrte begierig durch die Gitterstäbe, als die See unter ihnen
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