Inselzauber
fallen zwei Karten für das Sylter Meerkabarett für Samstagabend. Außerdem ein handgeschriebener Zettel, beides offensichtlich von Leon. »Weil du mein Friedensangebot angenommen hast. Ich hoffe, du hast Zeit und Lust!« Ich bin gerührt und stecke den Umschlag sofort in meine Tasche.
»Danke, ich komme gerne, das ist eine sehr schöne Idee. Alles Weitere dann mündlich«, schreibe ich in meine Antwort- SMS und wende mich dann wieder meinen morgendlichen Routinetätigkeiten zu. Mittlerweile ist es so, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Sogar an den Kopierer und den Briefmarkenverkauf habe ich mich irgendwie gewöhnt und muss Bea recht geben – beides lockt nun mal Kundschaft in die Buchhandlung.
Während wir alle vor uns hin pusseln – es ist noch leer, vermutlich weil heute Markttag ist und unsere Kunden erst einmal Lebensmittel einkaufen –, denke ich über Mailand nach. Auf alle Fälle muss ich in der Mittagspause ins Reisebüro, um mir einen Flug zu buchen. Dann werde ich zur Bank gehen, um zu prüfen, ob Stefan endlich das Geld überwiesen hat.
Für morgen Abend bin ich mit Marco verabredet, für Samstag mit Leon. Auf beide Männer freue ich mich. Tja – Langeweile kommt in meinem Leben derzeit mit Sicherheit nicht auf. Trotz aller Ungewissheiten genieße ich die Situation auch, gestehe ich mir ein, während ich zum x-ten Mal Fahrradkarten sortiere, die unsere Kunden mit schöner Regelmäßigkeit durcheinanderbringen. Auf alle Fälle ist jetzt wieder alles offen, und die Karten meines Lebens werden neu gemischt. Das ist immerhin etwas, was nicht jeder von sich behaupten kann.
»Das ist ja super – ich komme mit!«, ruft Marco begeistert, als ich ihm von meinem Vorstellungsgespräch im Hotel D’Angelo erzähle.
Wir sind gerade zwei Stunden am Watt spazieren gegangen und sitzen nun in den Gewölben der Kupferkanne in Kampen, einem beliebten und stark frequentierten Café. Eigentlich bin ich hier nicht so gern, weil die verwinkelten Gänge und die niedrigen, höhlenartigen Decken Klaustrophobie bei mir erzeugen. Vor mehr als vierzig Jahren verwandelte ein Bildhauer den ehemaligen weitverzweigten Flakbunker in einen gastronomischen Betrieb, und irgendwie wird das Café meiner Meinung nach diese Atmosphäre nicht richtig los. Doch das Publikum stört das nicht weiter, was mit Sicherheit auch daran liegt, dass die Terrasse malerisch in die Kampener Heide eingebettet liegt und der Rhabarberkuchen, den sie dort servieren, Weltklasseniveau hat.
»Du siehst nicht gerade glücklich aus«, stellt Marco fest.
Also erkläre ich ihm, weshalb ich mich hier unten im Keller nicht wohl fühle. Allerdings ist mir vor allem auch deshalb unwohl, weil es draußen noch taghell ist.
»Ich dachte schon, du möchtest nicht, dass ich dich nach Mailand begleite«, antwortet Marco lächelnd und zieht mich auf der schmalen Treppe hinter sich her nach oben, wo wir uns an den nächstbesten freien Tisch setzen.
Nachdem wir uns mit wärmenden Decken versorgt und etwas zu trinken bestellt haben, beobachte ich amüsiert, wie einige Gäste um diese Uhrzeit noch Kuchen vertilgen. Aber so ist das auf Sylt. Frühstücken kann man in den meisten Cafés bis 17.00 Uhr, warum also nicht auch abends Kuchen essen? Durch das Party- und Nachtleben verkehrt sich bei einigen Urlaubern eben der komplette Tagesablauf.
»Ich würde mich freuen, wenn du mitkämst«, sage ich entgegen meiner anfänglichen Bedenken und gehe damit, wenn auch etwas verspätet, auf Marcos Vorschlag ein. »Vielleicht erwischst du ja noch einen Platz in derselben Maschine?«
Wie gut, dass mittlerweile auch die großen Fluggesellschaften wie Lufthansa und Air Berlin Sylt anfliegen. So brauche ich nur in Hamburg umzusteigen und erspare mir die aufwendige Fahrt über den Hindenburgdamm. Marco notiert sich den Termin, dann blicken wir andächtig in den rötlichen Abendhimmel und beobachten, wie ein Kirschbaum, von einer Windbö gebeutelt, mit einem Schlag seine Blüten fallen lässt und das zarte Gras mit rosafarbenen Tupfern bedeckt.
Wir sind beide erschöpft von unserem Fußmarsch und dem angeregten Gespräch über das Schreiben und Literatur im Allgemeinen. Marco hatte mir ausführlich vom Entstehungsprozess seines neuen Romans erzählt, und wie immer kann ich nicht umhin, all diejenigen zu bewundern, die es schaffen, etwas zu Papier zu bringen, das viele Leser begeistert.
»Die Möwen werde ich bestimmt vermissen, wenn ich in Italien bin«, sinniere
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