Inselzauber
Frühling hat auf der Insel Einzug gehalten, und ich bin froh, dass die Tage nun endlich länger und heller sind, Blütenduft in der Luft liegt und wenigstens ab und zu mal die Sonne scheint. Auch heute haben wir Glück und können den Garten des Kapitänshauses für unsere Feier nutzen, auch wenn es doch noch ein wenig kühl ist. Vor dem Hauseingang haben Bea und ich eine Flagge mit dem Motiv einer lachenden Sonne gehisst, und ich freue mich über die ersten zarten Blätter an den berühmten Keitumer Rosen, die den Eingang säumen und sich um das Gartentor ranken. Noch ein paar Wochen, und die Blumen werden in voller Blüte stehen und mit ihrer farbigen Pracht den Garten in eine Oase verwandeln.
Die Friesenhäuschen scheinen sich angesichts der wärmeren Temperaturen nicht mehr ganz so sehr hinter den schützenden Steinwällen zu ducken, und am Meer sind mittlerweile die rund zwölftausend Strandkörbe aufgestellt, die an den einzelnen Badeabschnitten Sonnenhungrigen Schutz gegen den scharfen Ostwind bieten. An sich ist das Sylter Klima eher mild, doch heute ist es zu kühl, um sich ungeschützt irgendwohin zu setzen, und so prügeln sich unsere Gäste, allen voran die Kinder, um den einzigen Strandkorb im Garten.
Ständig klingelt es an der Tür, und wir haben alle Hände voll zu tun, gute Gastgeber zu sein. Wie immer ist Vero eine verlässliche Stütze, die mit unermüdlichem Eifer leere Gläser füllt und immer wieder die Krabbensuppe umrührt, die auf dem Herd vor sich hin köchelt. Sie hat ihren berühmten Osterzopf gebacken und eine himmlische Rote Grütze zubereitet.
»Leon, Julia, wie schön, dass ihr da seid«, begrüße ich das Paar, das heute etwas missmutig dreinblickt.
Ob sie sich gestritten haben?, frage ich mich, bekomme jedoch keine Gelegenheit, mir über die Gemütsverfassung der beiden Gedanken zu machen, weil nun Nele ihren Auftritt hat, die sich zur Feier des Tages »möwennestfrei« gegeben hat.
Genau genommen hat das Café schon seit Donnerstag geschlossen, weil sie nach Hamburg gefahren ist, um mit Alexander Herzsprung die Skizzen für das Buch durchzusehen, an denen sie in jeder freien Minute fieberhaft gearbeitet hat. Ich platze mittlerweile vor Neugier, weil Nele erst gestern Nacht zurückgekommen ist und außer ein paar geheimnisvoll klingenden SMS nichts von sich hat hören lassen.
»Wie war es in Hamburg?«, zische ich ihr zu, während ich den von ihr mitgebrachten Prosecco in den Kühlschrank stelle, und mustere meine Freundin eindringlich.
Sie sieht blendend aus, ihr Teint schimmert rosig und bringt ihre Sommersprossen heute noch besser zur Geltung als sonst. Sie trägt ein enggeschnittenes beigefarbenes Leinenkleid mit einem breiten, über und über mit bunten Steinen besetzten Gürtel. Die Haare hat sie ausnahmsweise offen, und so fallen ihre roten Locken auf den Hals und die Schultern und lassen sie aussehen wie eine Elfe. Ich kann nur hoffen und beten, dass ihre Attraktivität nicht das Ergebnis einer heißen Nacht mit ihrem Lektor ist, denn in Schwierigkeiten dieser Art würde ich meine Freundin höchst ungern sehen.
»Ah, Nele, hallo«, ertönt auf einmal die leicht unterkühlte Stimme Julias, die nun ebenfalls in die Küche gekommen ist, um sich etwas zu trinken zu holen.
Julia bildet einen absoluten Kontrast zur flippigen Nele, sie ist der Prototyp der Hanseatin. Auch heute hat sie ihr blondes Haar wieder zu einem strengen Zopf gebunden, und es gibt nicht ein klitzekleines Strähnchen, das sich aus ihrem Haargummi windet. Sie trägt sehr dezentes Make-up, im Gegensatz zu Nele, die heute, zumindest was ihre Lippenstiftfarbe betrifft, mal wieder einiges gewagt hat. Zum obligatorischen Hanseaten-Look gehört eine dunkelblaue, enganliegende Steghose, die Julias eher knabenhafte Figur mit flachem Bauch bestens zur Geltung bringt. Dazu trägt sie eine weiße Bluse und um die Schultern einen dunkelblauen Wollpulli, vermutlich Kaschmir. Natürlich dürfen auch die dezenten Perlenohrringe nicht fehlen, die das Styling konsequent abrunden.
Wie langweilig, denke ich und überlege, was Leon wohl an dieser Frau findet. Auf mich wirkt sie unterkühlt wie ein Eiszapfen, und so verhält sie sich uns gegenüber auch. Nele kann sie allem Anschein nach nicht ausstehen, und auch zu mir ist sie ganz offensichtlich nur höflich, weil sie zu Gast bei uns ist. Während meine Freundin schleunigst das Weite sucht und sich draußen mit Vero unterhält, versuche ich ein Gespräch mit Julia zu
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