Inselzirkus
Unterhaltung. Oder man ging durch die Hintertür in die Küche der Nachbarin, gesellte sich zu ihr, gab ihr gute Ratschläge oder ging ihr zur Hand und plauderte derweil mit ihr über den neuen Freund der Tochter der nächsten Nachbarin. Noch einfacher war es, sich an einen Gartenzaun zu stellen, hinter dem eine Hausfrau die Wäsche aufhängte, und mit ihr ein Gespräch über Waschmittel, Stärke und Weichspüler zu beginnen, es zu den Schulden des übernächsten Nachbarn zu führen, der trotzdem einen neuen Fernseher angeschafft hatte, und mit dem Verdacht zu beenden, dass die Witwe Usebio einen Freund hatte, der sogar gelegentlich bei ihr übernachtete. In Italien alles kein Problem! Aber hier auf Sylt? Die Türen waren geschlossen, niemand saà davor, und Erik hatte ihr dringend davon abgeraten, einfach durch den Hintereingang das Haus der Nachbarin zu betreten. Was in Umbrien selbstverständlich war, wurde auf Sylt Hausfriedensbruch genannt.
Carlotta ging zum Fenster und warf einen Blick zum Nachbarhaus. Bei Familie Kemmertöns war alles dunkel. Wäre jemand zu Hause gewesen, würden jetzt die ersten Lichter angehen. Zwecklos, dort zu klingeln und unter einem Vorwand nach Geselligkeit zu suchen.
Sie zog ihre Jacke wieder an, griff nach dem Schlüssel und steckte ihn ein. Allein zu Hause bleiben? Nein, das kam nicht infrage. Sie würde sich ja zu Tode langweilen! Da war es doch besser, sie brachte Tanja gleich jetzt die frohe Botschaft, dass una bettola gefunden war, deren Wirt kein Problem damit hatte, seine Imbissstube im Fernsehen als Kaschemme zu präsentieren. Tanja würde sich freuen!
Gerade wollte sie die Haustür hinter sich ins Schloss ziehen, da fiel ihr Busso Heinemann ein. Der arme Mann würde sich Hoffnungen machen, wenn er sie zu Gesicht bekam! Die durfte sie nicht enttäuschen. Eilig ging sie zum Kühlschrank und nahm die Antipasti heraus, die sie immer am ersten Tag ihres Aufenthalts auf Sylt einlegte. Eine groÃe Portion steckte sie in einen Plastikbeutel, in eine Tüte ein halbes Ciabatta-Brot und dazu eine Packung Grissini. Busso Heinemann sollte an diesem Abend mit dem guten Gefühl einschlafen, dass jemand für ihn gesorgt hatte.
Tatsächlich bestaunte Busso das, was Mamma Carlotta ihm auf die Decke legte, wie ein Kind seine Weihnachtsgeschenke. Allein die Tatsache, dass sie ihr Versprechen wahr gemacht hatte, rührte ihn zu Tränen. »Das habe ich nicht erwartet, Signora!«
Der Wachmann dagegen, der die Schranke bewachte, beurteilte diese Angelegenheit anders. Dass die Leckerbissen, die ihren Duft bis zur Schranke verströmten, einem Obdachlosen zugutekommen sollten, schien ihm nicht zu gefallen. Er machte einen langen Hals und betrachtete stirnrunzelnd alles, was vor Busso ausgebreitet wurde. Mamma Carlotta, die es gewöhnt war, dass ihre Antipasti in jedem Feinschmecker Begehrlichkeiten weckte, fragte ihn: »Soll ich Ihnen das nächste Mal auch ein paar marinierte Paprikaschoten mitbringen?«
Aber das lehnte der Wachmann strikt ab. »Ich bin kein Penner«, sagte er. »Wenn ich Hunger habe, kann ich mir was kaufen.«
Mamma Carlotta war gekränkt. Wie konnte man ihr freundliches Angebot derart falsch verstehen? Dass der Wachmann sich gerade eine italienische Mamma zur Feindin machte, ahnte er wahrscheinlich nicht. Zur Strafe setzte sie ihre hochmütigste Miene auf und teilte dem undankbaren Wachmann mit knappen Worten mit, dass sie von Tanja Möck erwartet werde. Und das, ohne ihn in die Geschichte einzuweihen, die zu ihrer Bekanntschaft geführt hatte. In diesen Genuss wäre der Mann sicherlich gekommen, wenn er sich freundlicher verhalten hätte!
Doch der Wachmann nahm entweder seine Aufgabe besonders ernst, oder er war noch immer beleidigt, weil er glaubte, dass er in einen Topf mit einem Obdachlosen geworfen werden sollte. Jedenfalls weigerte er sich, die Schranke zu heben, bevor er sich telefonisch bei Tanja Möck erkundigt hatte, ob der Besuch von Carlotta Capella wirklich erwünscht war. Und selbst dann durfte Mamma Carlotta noch nicht auf den Platz gehen, sondern musste warten, bis Tanja zur Schranke kam, um sie dort abzuholen.
Von da an verlief jedoch alles so erfreulich, wie Mamma Carlotta es erwartet hatte. Tanja Möck war so dankbar, wie es sich gehörte, und Mamma Carlotta wies ihren Dank entrüstet zurück, weil sich das ebenso gehörte. Ein
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