Inshallah - Worte im Sand - Roman
immer wieder besuche. Wenn sie herausfinden, dass ich mich zu Ihnen schleiche, um heimlich zu lernen, werde ich eine Tracht Prügel bekommen. Mein Vater würde auch dann nicht zustimmen, wenn ihm all das egal wäre«, erklärte ich. »Denn es wäre viel zu teuer.«
Meena lächelte. »Es wäre kostenlos, mein Kind. Meine Freundin schuldet mir einen Gefallen. Und …« Ich erlebte zum ersten Mal, dass Meena die Worte fehlten. »… Und ich bin es deiner Mutter schuldig. Ohne meinen geheimen Literaturkreis …« Ich wollte etwas sagen, aber Muallem ließ mich nicht zu Wort kommen. »Lass dir Zeit. Es ist keine leichte Entscheidung. Denk darüber nach. Sprich mit deinem Vater. Wir leben in einem neuen Afghanistan. Frauen und Mädchen dürfen wieder etwas lernen, und ich meine, dass du genau dafür bestimmt bist.«
Ich lächelte Meena an. Sie drückte meine Hand. Dann zog sie ein Buch mit abgewetztem Ledereinband aus dem Regal.
»Nun werden wir den Gedanken an deine herrliche Zukunft beiseite schieben und uns der Vergangenheit widmen. Wir sehen uns noch einmal Firdausis Sohrab an.«
Als ich nach dem Unterricht nach Hause ging, dachte ich weiter über die Gedichte nach, die Muallem mir gezeigt hatte. Ich kaufte auf dem Basar Paprikaschoten und war wieder einmal froh, dass ich die Hasenscharte los war, denn ich erregte kaum noch Aufmerksamkeit.
Überall auf dem Markt, im Café und auf der Straße standen und saßen Männer beisammen und sprachen über die Wahlen. Ein junger Mann, der in einem Café Limonade verkaufte, fuchtelte beim Reden mit den Händen. »Die Amerikaner haben alles so eingerichtet, dass diese Frau … Wie heißt sie gleich? Diese … Malalai Joya gewinnt«, rief er. »Sie lassen ihre Bomben nicht nur auf unsere Kinder fallen, nein, jetzt wollten sie auch noch, dass ihre Marionetten in der Hauptstadt regieren!«
Ein Greis mit langem, weißem Bart öffnete eine Flasche Zam Zam und nickte. »Nicht einmal die Frauen wollen, dass eine Frau im Parlament sitzt. Ein paar verrückte Stimmzettelzählerinnen haben Joya durch Betrug zum Sieg verholfen. Mein Cousin war Augenzeuge.«
Ein dritter Mann in einem blütenweißen Salwar Kamiz, der eine Flasche Limonade kaufte, schüttelte den Kopf. »Warum beklagt ihr euch? Immerhin dürfen wir wählen. Im Vergleich mit der Taliban-Herrschaft ist das ein Fortschritt.«
Der Inhaber des Cafés gab dem Mann das Wechselgeld und blickte ihn scharf an. »Erzähl das den siebzehn unschuldigen Frauen und Kindern, die im letzten Juli in der Provinz Kunar durch amerikanische Bomben gestorben sind. Man wollte sie gerade aus den Trümmern bergen, als die Amerikaner noch einmal angegriffen haben. Die Taliban hatten keine Bomber.«
Der weiß gekleidete Mann schüttelte im Gehen den Kopf. »Ihr ertragt es einfach nicht, dass eine Frau einen Sitz im Parlament hat.«
Eine Frau im Parlament? Unfassbar! Kaum zu glauben. Aber dass die Amerikaner Bomben auf Kinder geworfen hatten, war ebenso unglaublich.
»Zulaikha«, flüsterte jemand in der schmalen Gasse zwischen zwei geschlossenen Läden. Ich erschrak, aber es war nicht Anwar. »Zulaikha«, flüsterte die Stimme wieder, diesmal lauter.
»Zeynab!« Ich lief in die Gasse und schloss meine Schwester samt Tschadri und allem stürmisch in die Arme. »Bist du es wirklich, Zeynab?«
Sie entwand sich meiner Umarmung und zog den Tschadri zurück, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte.
»Zeynab.« Ich schlug bei ihrem Anblick die Hände vor das Gesicht. Zuletzt hatte ich sie bei ihrer Hochzeit gesehen. Damals war ihr Haar lockig, ihr Gesicht geschminkt gewesen. Sie hatte gestrahlt. Nun hatte sie dunkle Ringe unter den geröteten Augen und ihre Lippen waren rissig. »Was ist passiert?«
»Gar nichts.« Sie lächelte. »Dein Mund. Er ist wunderschön. Ich habe gehört, dass du operiert worden bist, und ich freue mich so sehr für dich! Ich wollte dich wenigstens einmal sehen.«
»Dann lade mich in dein neues Haus ein. Ich vermisse dich so sehr.«
Sie fuhr mit den Fingern durch ihr zotteliges, staubiges Haar. »Ich wollte dich einladen, aber ich habe alle Hände voll zu tun. Leena ist hochnervös und bekommt immer einen Anfall, wenn sie zu viel arbeiten muss. Belquis ist schwanger und kann auch nicht viel tun. Außerdem muss ich mich um die vielen Kinder kümmern. Und unser Haus ist so riesig, dass das …« Sie biss auf einen Finger und wandte sich kurz ab. Dann sah sie mich an und zwang sich ein Lächeln ab. »… das Putzen viel länger
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