Inside Aldi & Co.
zu sehen. «Durch Aldi habe ich die Romantik entdeckt», sagt Hans W., was Sigrid erst mit einem skeptischen Blick, dann mit einem Lachen quittiert.
W. war mal ein Kämpfer und 27 Jahre an der Billigfront tätig, hat für den Discounter mehr als 15 000 unbezahlte Überstunden geleistet. «Ich war Aldianer», sagt er. Er lieferte gute Zahlen, war bei Kunden und Mitarbeitern beliebt. Aber er hat sich auch nie etwas gefallen lassen. Nach etwa zehn Jahren als Filialleiter versuchte der Discounter zum ersten Mal, ihn loszuwerden. Eifrige Vorgesetzte schrieben eine Abmahnung, in der sie Pingeligkeiten auflisteten wie «bei einer Testlieferung 2 Kartons Kiwis übersehen». W. suchte einen Anwalt auf, der an Aldi schrieb und die «fadenscheinigen Gründe» erfolgreich zurückwies. Der Discounter lenkte ein – vorläufig.
Die Geschäfte brummten in seiner Stadt wie überall in Deutschland, und die Jahre vergingen. Zwei bis drei Vorgesetzte sah W. jedes Jahr kommen und gehen. Er überdauerte sie alle.
Er zeigt mir eine Urkunde, die ihm zum 25 -jährigen Dienstjubiläum überreicht wurde. Man sei sehr zufrieden mit ihm und freue sich auf die weitere Zusammenarbeit, steht da.
Nur wenig später startete Aldi den zweiten Versuch, ihn loszuwerden – er dauerte insgesamt drei Bereichsleiter lang. W. erwies sich als harter Brocken. Also setzten sie einen harten Hund auf ihn an, um den Termin im «Verhörraum» vorzubereiten. Der Filialleiter wurde nun regelmäßig zu Kritikgesprächen zitiert, bevorzugt kurz vor oder nach dem Urlaub, und wegen Bagatellen gerügt: Angeblich habe er zweimal das Mindesthaltbarkeitsdatum von Artikeln nicht kontrolliert, einmal die Abschöpfung bei einer Kassiererin vergessen. Das «Highlight», das Sigrid noch heute in Rage bringt: W. hatte die Brandschutztür, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, nicht geschlossen. Wie seit über zwanzig Jahren. Denn sie führte zu einem Fluchtweg im Lager, der nicht blockiert werden durfte. Aber seinem Vorgesetzten war auch das gesetzeskonforme Verhalten von W. plötzlich eine Abmahnung wert. Immerhin hatte er sich über die Anweisung seines Vorgesetzten, sie trotzdem zu schließen, einfach hinweggesetzt. Selbst Aldi räumte später vor Gericht ein, bei dieser Abmahnung sei dem Discounter ein «Lapsus» unterlaufen. Das machte dann vier Abmahnungen innerhalb von vier Monaten, nachdem er 27 Jahre fast ohne Beanstandungen, abgesehen von den übersehenen Kiwis, die aber auch klein sind, gearbeitet hatte.
Am 7 . Dezember 2000 überraschten ihn zwei Aldi-Prokuristen aus der regionalen Verwaltung mitten im Weihnachtsgeschäft. Sie holten ihn aus dem Laden in den Pausenraum der Filiale, setzten sich ihm gegenüber und konfrontierten ihn mit Vorhaltungen: Er sei «zu hart» und «zu kalt», dann aber auch manchmal wieder «zu kollegial» und überhaupt arbeite er «zu ungenau». Sie zauberten einen Beschwerdebrief einer Mitarbeiterin hervor, von dem W. noch nie etwas gehört oder gelesen hat. Mal wieder ein ominöses Schreiben. Verfasst von einer Verkäuferin, die Aldi vor Jahren wegen Beleidigung von W. entlassen hatte. Nun aber tauchte der Brief in den Akten plötzlich auf. Und W. wurde stundenlang mit Vorwürfen konfrontiert und im «Verhörraum» festgehalten.
Aber er reagierte nicht, sondern setzte sein Pokerface auf und trieb damit die Aldi-Prokuristen erst recht zur Weißglut. W. ließ sich seine Anspannung nicht anmerken, auch wenn er ganz genau wusste, dass seine Stunde geschlagen hatte. Kündigung oder Aufhebungsvertrag – vor diese Wahl wurde er gestellt. Die Manager erinnerten ihn an seinen Ruf im Ort und das Arbeitszeugnis, das er ja brauche. Sie wollten ihn unbedingt, mal lautstark, mal besänftigend, am Ende, erinnert er sich, fast bettelnd und flehend zur Unterzeichnung eines Aufhebungsvertrages drängen.
Aber W. blieb hart. Er nahm die ordentliche Kündigung und zog vor Gericht. Aldi verlor, die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos, und der Discounter musste ihm eine hohe Abfindung zahlen.
Doch in der ländlichen Gemeinde, in der er lebt, entstanden schnell Gerüchte. W., glaubte man in der Kleinstadt zu wissen, müsse etwas angestellt haben. Lange Jahre war er das Gesicht von Aldi im Ort gewesen. Wenn da nichts gewesen wäre, hätten sie ihn doch nicht einfach rausgeschmissen, von heute auf morgen, wurde getuschelt. Er habe eine Verkäuferin hinter der Zuckerpalette «genommen», wurde plötzlich verbreitet. Sein soziales Leben wurde
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