Inside Occupy
mussten ihren Text bereits auswendig gelernt haben, bevor sie überhaupt aufgekreuzt waren.
Trotzdem, viel konnten wir nicht machen. Widerwillig fügten wir uns und gingen wieder zurück zum Meeting. Natürlich wurde nichts aus der Vollversammlung. Die Vorstellung der Organisatoren von einer »Versammlung« schien ein offenes Mikro zu sein, an dem jeder Anwesende ein paar Minuten bekam, um seine allgemeine Position darzustellen oder ein spezielles Problem; dann sollte es auf die im Voraus geplante Demo gehen.
Nach etwa zwanzig Minuten war Georgia am Mikro an der Reihe. Ich sollte hier anmerken, dass Georgia von Berufs wegen Performancekünstlerin ist. Als solche hat sie schon immer großen Wert darauf gelegt, eine gewisse fein gedrechselte öffentliche Rolle zu kultivieren – und das ist, kurz gesagt, die einer Irren. Solche Rollen gründen sich immer auf einige Elemente der eigenen Persönlichkeit, und in Georgias Fall spekuliert man in ihrem engeren Freundeskreis durchaus darüber, wie viel genau nun bei ihr gespielt ist und wie viel nicht. Zweifelsohne ist sie eine der impulsiveren Leute, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Aber sie hat die Gabe, zu gewissen Gelegenheiten genau den richtigen Ton zu treffen – für gewöhnlich, indem sie sämtliche Annahmen darüber durchhechelt, was eigentlich los sein sollte.
Georgia also begann ihre drei Minuten mit der Erklärung: »Das hier ist keine Vollversammlung! Wir sind aber zu einer Vollversammlung gekommen!« Und dann schilderte sie detailliert, wie man so was in Athen aufzog: das Lotterieverfahren, mit dem man die Sprecher bestimmte, die Art, wie man zu Entscheidungen kam … Um ehrlich zu sein, habe ich nicht alles mitbekommen, weil ich größtenteils Ausschau nach potenziellen Verweigerern hielt, die ich zu überreden versuchte, sich uns anzuschließen, falls wir uns noch einmal absetzen sollten. Aber wie jeder andere auch, der an dem Tag dabei war, erinnere ich mich noch an den Höhepunkt, als Georgia nach Ablauf ihrer Zeit in einen hitzigen Schlagabtausch mit einer Afroamerikanerin geriet, die bereits zuvor für die WWP gesprochen hatte und jetzt unmittelbar auf Georgia reagierte.
»Also, ich finde die Intervention meiner Vorrednerin zutiefst despek tierlich . Das war doch kaum mehr als ein bewusster Versuch, das Meeting zu unter- …«
»Das ist kein Meeting! Das ist eine Kundgebung.«
»Äh, ich finde die Intervention meiner Vorrednerin zutiefst despektier lich . Man kann anderer Meinung sein, aber ich würde doch zweierlei im Umgang miteinander erwarten: Respekt und Solidarität. Was meine Vorrednerin da gemacht hat …«
»Augenblick mal, willst du damit sagen, ein Meeting an sich zu reißen zeugte von Respekt und Solidarität?«
Hier mischte sich, in gespielter Entrüstung, ein weiterer WWP-Sprecher ein: »Ich kann’s einfach nicht glauben, dass du eben eine Schwarze unterbrochen hast!«
»Warum sollte ich nicht?«, meinte Georgia. »Ich bin selber schwarz.«
Ich sollte hier anmerken, dass Georgia blond ist.
Die Reaktion lässt sich als ein allgemeines »Hä?« beschreiben.
»Du bist
was
?«
»Du hast mich schon verstanden. Ich bin schwarz. Meinst du, du bist die einzige Schwarze hier?« 4
Die anschließende Verwirrung gab ihr gerade genug Zeit, um anzukündigen, wir würden jetzt zur richtigen Vollversammlung übergehen und uns dazu in einer Viertelstunde auf dem Rasen am hinteren Tor treffen. In dem Augenblick scheuchte man sie von der Bühne. Und einmal mehr traten Leute von der ISO auf den Plan, um zu vermitteln. Sie schlugen eine Abstimmung darüber vor, ob man den Marsch abblasen und einfach die »Versammlung« verlängern sollte. Es kam zu Beleidigungen und Schmähungen. Nach einem etwa halbstündigen Drama bildeten wir erneut unseren Kreis auf der anderen Seite des Bowling Green, und diesmal kehrte der Kundgebung fast jeder den Rücken, der sie bis dahin durchgestanden hatte, und schloss sich uns an. Uns wurde klar, dass wir eine nahezu vollkommen horizontale Gruppe waren: nicht nur Solidaritätsleute der Wobblies und Zapatistas, sondern auch einige Spanier, die mit den Indignados in Madrid aktiv gewesen waren, ein paar Vertreter der Insurrectionist Anarchists, die mit den Besetzungen in Berkeley einige Jahre zuvor zu tun gehabt hatten. Dann waren da noch vier oder fünf ratlose Zaungäste, die einfach nur mal vorbeigekommen waren, und noch mal so viele von der WWP (wenn auch niemand vom Zentralkomitee), die sich zögernd wohl
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