Inside Occupy
viele Teilnehmer schienen nicht zu verstehen, dass ein »Block« – oder Veto – etwas ganz anderes war als ein »Nein«-Votum. Selbst die Moderatoren, die die Meetings leiten sollten, neigten dazu, die Diskussion von Vorschlägen anstatt mit der Frage, ob jemand etwas geklärt haben oder Bedenken anmelden möchte, mit einem schlichten »Okay, soweit der Vorschlag. Irgendwelche Blocks?« einzuleiten.
Aber jenseits aller demokratischen Verfahrensfragen tat sich auch die Frage nach dem richtigen Verhalten bei Straßenaktionen auf. Wir mussten jemanden finden, der Rechtsberatung leisten konnte, um den Leuten wenigstens verständlich zu machen, was sie im Fall einer Festnahme erwartete. Und zu Festnahmen würde es auf jeden Fall kommen, ob wir uns nun zu etwas Illegalem entschließen sollten oder nicht. Also sollte jeder wissen, was er sagen und tun musste und was nicht. Und wir brauchten noch viel mehr. Etwa Erste-Hilfe-Kurse, damit man wusste, was zu tun war, wenn jemand neben einem zu Boden ging. Und eine Einführung in den zivilen Ungehorsam, um zu lernen, wann man in den Schulterschluss zu gehen hatte und wie das ging; wie man sich schlaff zu machen hatte; wann man Befehlen Folge zu leisten hatte und wann nicht und welche Konsequenzen eine Weigerung hätte. Es war bald klar, dass ich als einer der wenigen verbliebenen Veteranen aus den Tagen der Globalisierungsbewegung während der kommenden Wochen alle Hände voll zu tun habenwürde, alte Freunde aufzuspüren, die entweder aufgegeben oder sich versteckt hatten, die mehr oder weniger im Ruhestand oder ausgebrannt waren – oder einen Job angenommen hatten oder auf einer Biofarm lebten.
Bei jener ersten Vollversammlung am Irish Potato Famine-Denkmal beschlossen wir, alle folgenden VVs im Tompkins Square Park im East Village abzuhalten – mit anderen Worten, nicht in der relativ desolaten Umgebung der Wall Street selbst, sondern im Herzen eines richtigen New Yorker Quartiers, eben jener Art von Gegend, in der wir irgendwann lokale Versammlungen entstehen sehen wollten. Da Marisa eine Menge Erfahrung mit dem Konsensprozess hatte, erklärten wir beide uns bereit, am 13. August die erste Versammlung zu moderieren. Sie war übrigens so gut – und alle anderen zunächst so unerfahren –, dass sie schließlich die nächsten vier Meetings wenigstens co-moderieren musste.
Marisa war ganz unglaublich. Sie wurde rasch die Frau, die alles zusammenhielt. Es würde mich schwer überraschen, wenn ohne sie letztlich überhaupt etwas zustande gekommen wäre.
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Das einzige existierende Foto einer Vollversammlung im Tompkins Square Park, aufgenommen von Bob Arihood am 13. August 2011. Der Autor ist der, der in seiner Eigenschaft als Moderator unter dem Hare Krishna Tree steht, die Co-Moderatorin Marisa Holmes sitzt zu seiner Rechten. Ironischerweise erhoben zum Zeitpunkt dieser Aufnahme einige der Teilnehmer Einwände dagegen, die Ereignisse zu dokumentieren.
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Im Verlauf der nächsten paar Wochen begann ein Plan Gestalt anzunehmen. Wir kamen überein, dass wir eigentlich etwas von der Art machen wollten, was man bereits in Athen, Barcelona oder Madrid geschafft hatte: öffentlichen Raum zu besetzen, um eine New Yorker Vollversammlung zu schaffen, ein neues Gremium, ein Modell einer wahrhaft direkten Demokratie als Gegengewicht zu der korrupten Farce, die uns die amerikanische Regierung als »Demokratie« präsentiert. (Wir entschlossen uns sogar nach einigem Hin und Her, unsere Website NYC-GA.org zu nennen, für »NYC General Assembly«, nur damit es auch der Letzte verstand.) Die Aktion in der Wall Street sollte ein Sprungbrett sein.
Dennoch konnte man fast unmöglich vorhersagen, was am 17. September wirklich passieren würde. Angeblich sollten uns im Internet 90 000 Leute beobachten.
Adbusters
hatte zu einer Kundgebung der 20 000 aufgerufen. So viele würden es ganz offensichtlich nicht werden. Aber wie viele würden tatsächlich kommen? Und außerdem, was sollten wir mit den Leuten machen, wären sie erst mal da? Wir waren uns in hohem Maße bewusst, was uns da bevorstand. Die New Yorker Polizei hat nahezu 40 000 Beamte – New York, so behauptet Bürgermeister Bloomberg gern, verfügte, wäre es ein unabhängiger Staat, über die siebtgrößte Armee der Welt. 10 Die Wall Street ihrerseits ist wahrscheinlich die am schärfsten von Polizei bewachte Örtlichkeit auf der ganzen Welt. Wäre es überhaupt möglich, so nahe an der Börse eine solche Aktion
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