Inside Occupy
unerwartete Wirkung hatte. Der ursprüngliche #OccupyWallStreet-Account (der sich einem kleinen Transsexuellenkollektiv aus Montreal verdankte, das, ohne weiter auf sich aufmerksam gemacht zu haben, an unserem ersten Meeting teilgenommen hatte) verbreiteteauf der Stelle die Nachricht, dass ich vor Ort sei und eine Ahnung zu haben schien, was da lief. Binnen weniger Stunden hatte mein Account 2000 neue Follower. Ich begann ein vages Gespür für die Erwartungshaltung zu bekommen, mit der man rund um die Welt alles begrüßte, was da geschah. Etwa eine Stunde später merkte ich, dass ich nur ein Update hinauszuschicken brauchte, und zehn Minuten später stand es – in Barcelona übersetzt – auf Spanisch im Web.
Das große Rätsel war natürlich nach wie vor, wie viele Leute tatsächlich aufkreuzen würden. Da wir keine Zeit für ernsthafte Anstrengungen hinsichtlich der Organisation von Transportmöglichkeiten gehabt hatten, konnte man bestenfalls Vermutungen anstellen. Abgesehen davon waren wir uns sehr wohl darüber im Klaren, dass die Leute, falls sie tatsächlich massenhaft herbeiströmen sollten, irgendwo würden kampieren müssen. Heikel. Schließlich hatten wir weder für Unterkünfte gesorgt, noch hatten wir eine Ahnung, ob überhaupt Platz für sie war.
Zunächst hatte es freilich nicht den Anschein, als sollte das ein großes Problem werden, will sagen: Wir schienen enttäuschend wenig zu sein. Darüber hinaus machten einige von denen, die gekommen waren, einen entschieden … tja, eigenartigen Eindruck. Ich erinnere mich an ein Fähnlein von etwa einem Dutzend »Protestgeistlicher« in weißen Soutanen,die radikale Hymnen schmetterten, während vielleicht zehn Meter weiter ein rivalisierender Chor von Lyndon-LaRouche-Anhängern eher filigranklassische Harmonien zu Gehör brachte. Gelegentlich tauchten kleine Grüppchen junger Trebegänger – oder vielleicht waren es auch nur etwas gammligere Aktivisten – auf und marschierten ein paarmal die Barrikaden auf und ab, die die Polizei um den Bullen aufgestellt hatte. Überhaupt wurde dieses so offensichtlich symbolische Ziel zu jedem Zeitpunkt eifrig von einer Abteilung Uniformierter bewacht für den Fall, dass ihn jemand zu beschädigen, dekorieren oder zu verunstalten versuchte.
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Das Original-Adbusters-Poster
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17. September: der Wall Street-Bulle unter dem Schutz von wenigstens zehn Streifenbeamten, während die Demonstranten sich schon zum Marsch Richtung Zuccotti Park anschicken.
Foto vom Autor
Es dauerte nicht lange, und ich sah mich mit einem Dilemma konfrontiert. Ich hatte mich bereit erklärt, nachmittags um eins bei einem Teachin auf der anderen Seite des Parks mitzuwirken, nur hatte sich zu dieser Zeit mein Twitter-Account bereits – aus Mangel an Alternativen – zumwichtigsten Kommunikationssystem der Demonstranten entwickelt, und ich fühlte mich nun verpflichtet, die regelmäßige Berichterstattung auf rechtzuerhalten . Infolgedessen hastete ich etwa eine Stunde lang hektisch hin und her, lauschte marxistischen Analysen der kriselnden Weltwirtschaft, arbeitete währenddessen an meiner eigenen Präsentation und rannte immer wieder – über Hecken springend – los, um die Bewegungen der Polizei zu überwachen, die ich dann übers Internet weitergab. Gelegentlich kidnappte mich ein verzweifelter Aktivist für eine dritte Aufgabe: Such doch mal jemanden von der Mediengruppe, der mit CNN reden will! Oder: Kannst du mal sehen, wo der Folksänger abgeblieben ist, der uns einen Auftritt zugesagt hat? Bislang hatte ich noch keine Ahnung, wohin wir denn nun um drei Uhr losmarschieren sollten! Immerhin merkte ich nebenbei, dass es nach und nach immer mehr Leute wurden. Als dann Reverend Billy, ein berühmter radikaler Performancekünstler, von der Treppe des Museum of the American Indian am Südende des Parks seine Predigt begann, sind es bereits um die 1000 gewesen. Irgendwann drückte mir jemand – keine Ahnung, wer – einen Stadtplan in die Hand. Auf dem waren acht Ziffern verzeichnet: Vier entsprachen Parks, die von hier aus zu Fuß zu erreichen und eventuell als Ort für eine Vollversammlung geeignet wären; die vier anderen waren Köder für die Polizei. Gegen halb drei ging die Parole aus, wir sollten uns alle in der Nr. 2 einfinden.
Das war der Zuccotti Park.
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17. September 2011. Ankunft am Zuccotti Park.
Foto vom Autor
Als wir dort ankamen, waren wir so viele – wenigstens
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