Inside Occupy
Brooklyn Bridge am 2. Oktober erhielt OWS folgende, von 50 chinesischen Intellektuellen und Aktivisten unterzeichnete Note. Sie prophezeiten, die Ereignisse vom Zuccotti Park würden den Anfang einer weltweiten Erhebung markieren, und protestierten gegen die Versuche ihrer eigenen Regierung, die Nachrichten darüber zu unterdrücken:
»Der Ausbruch der ›Wall-Street-Revolution‹ im Herzen des weltweiten Finanzimperiums zeigt, dass 99 Prozent der Weltbevölkerung weiterhin ausgebeutet und unterdrückt werden – in den Industrie- wie in den Entwicklungsländern. Überall auf der Welt müssen die Menschen zusehen, wie man ihre Reichtümer plündert undihnen die Rechte nimmt. Die ökonomische Polarisierung ist heute eine Bedrohung für jeden von uns. Auch der Konflikt zwischen Volks- und Eliteherrschaft findet sich in allen Ländern. Heute jedoch erfährt die volksdemokratische Revolution Unterdrückung nicht nur seitens der eigenen herrschenden Klasse, sondern auch seitens der Weltelite, die sich durch die Globalisierung gebildet hat. Die ›Wall-Street-Revolution‹ leidet nicht nur unter den Repressalien der amerikanische Polizei, sie leidet auch unter einem von der chinesischen Elite organisierten Medienblackout …
Die Glut der Revolte glimmt unter uns allen und wartet nur darauf, bei der leichtesten Brise in Flammen aufzugehen. Die große Ära der Volksdemokratie, die die Geschichte verändern wird, ist wieder da!« 4
Die einzige Erklärung für eine solche Begeisterung ist die, dass andersdenkende chinesische Intellektuelle, wie die meisten Menschen auf der Welt, das, was da im Zuccotti Park passierte, als Teil einer Welle des Widerstands rund um den Globus sahen. Es zeichnet sich deutlich ab, dass der globale Finanzapparat und das ganze Machtsystem, auf dem er aufgebaut ist, seit dem Beinahekollaps von 2007 am Wanken ist. Die ganze Welt hatte auf eine Gegenbewegung von unten gewartet. Waren die Erhebungen in Tunesien und Ägypten der Anfang? Oder waren das begrenzte lokale oder regionale Angelegenheiten? Dann begannen sie sich auszubreiten. Und als die Welle ins »Herz des weltweiten Finanzimperiums« schwappte, konnte nun wirklich keiner mehr leugnen, dass da etwas Epochales passierte. 5
Aber das alles erklärt noch nicht, weshalb sich die Bewegung in Amerika (wo es Al-Dschasira noch nicht mal im Kabel gibt) so rasch ausgebreitet hat.
Die Ausbreitung
2. Frage:
Warum hat sich die Bewegung so rasch über Amerika ausgebreitet?
Meine eigene erste Analyse dieser Frage habe ich nur wenige Tage nach Beginn der Besetzung niedergeschrieben – und das, durchaus passend, für den britischen
Guardian
, der sich als eine der ersten Zeitungen mit dem konkreten Hintergrund der jungen Aktivisten im Zuccotti Park zubefassen begann. Mein Artikel sollte sowohl beschreiben als auch prophetisch sein. Und meiner Ansicht nach hält er noch heute größtenteils stand.
Ich habe mich dabei in hohem Maße auf Erkenntnisse gestützt, die Marisa Holmes in ihren Videodokus gewonnen hatte. Wann immer Marisa nicht gerade bei der Logistik oder der Organisation der Moderatorenkurse aushalf, führte sie Einzelinterviews mit anderen Besetzern im Camp. Immer wieder bekam sie dabei ein und dieselbe Geschichte zu hören: »Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat! Ich habe hart gearbeitet, in der Schule fleißig gelernt, habe es aufs College geschafft. Jetzt bin ich arbeitslos, habe keine Perspektiven und zwischen 20 000 und 50 000 Dollar Schulden.« Einige dieser Leute waren Mittelschicht durch und durch. Die Mehrheit kam womöglich aus eher bescheidenen Verhältnissen; sie alle hatten es mit harter Arbeit, Talent und Entschlossenheit ans College geschafft. Jetzt standen sie bei genau der Finanzindustrie in der Kreide, die die Weltwirtschaft zu Klump gehauen und dafür gesorgt hatte, dass sie auf einem Arbeitsmarkt gelandet waren, in dem es schlicht keine Arbeit gab. Als ich das hörte, sah ich mich natürlich sofort auf vertrautem Terrain, schließlich hatte ich einen Gutteil des Sommers Vorträge über die Geschichte der Schulden gehalten.
Auch wenn ich mein Leben als Autor von dem des Aktivisten zu trennen versuchte, fiel mir das doch zunehmend schwer, da in so gut wie jedem Publikum, vor dem ich sprach, eine erkleckliche Zahl junger Leute saß, von denen mich wenigstens ein, zwei hinterher ansprachen, um sich leise über die Aussichten auf irgendeine Art Bewegung zu erkundigen, die sich des Problems der Studienkredite
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